Neutropenie

(Agranulozytose, Granulozytopenie)

VonDavid C. Dale, MD, University of Washington
Überprüft/überarbeitet Apr. 2023
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Unter Neutropenie versteht man eine Verminderung der Neutrophilenzahlen im Blut. In schweren Fällen sind das Risiko und die Schwere bakterieller und mykotischer Infektionen erhöht. Lokale Symptome einer Infektion können fehlen, aber bei den meisten schweren Infektionen tritt Fieber auf. Die Diagnose wird durch die Leukozytenanzahl mit einer Differenzialzählung gestellt, und bei der Auswertung sollte die Ursache ermittelt werden. Bei Fieber muss eine Infektion angenommen werden; in diesem Fall ist ein sofortiger, empirischer Einsatz eines Breitspektrumantibiotikums erforderlich, insbesondere bei schwerer Neutropenie. Die Behandlung mit Granulozyten-Kolonie-stimulierendem Faktor wird zur Stimulierung der Neutrophilenproduktion und zur Prävention bakterieller Infektionen nach einer Krebs-Chemotherapie und bei schwerer chronischer Neutropenie eingesetzt.

Die Neutrophilen (Granulozyten) stellen die Hauptabwehr des Körpers gegen bakterielle Infektionenund mykotische Infektionendar. Liegt eine Neutropenie vor, ist die Entzündungsreaktion auf solche Infektionen abgeschwächt.

Bei Hellhäutigen beträgt die Untergrenze der Neutrophilenzahl (Produkt aus der Gesamtzahl der weißen Blutkörperchen ×% der stabkernigen und segmentkernigen Granulozyten) etwa 1500/mcl (1,5 x 109/l). Bei Schwarzen liegt diese Grenze etwas niedriger (ca. 1200/mcl [1,2 x 109/l]). Die Anzahl der Neutrophilen ist nicht so stabil wie die anderer Zellen und kann abhängig von vielen Faktoren wie Aktivitätsstatus, Angstzuständen, Infektionen und Medikamenten über kurze Zeiträume beträchtlich variieren. Daher können mehrere Messungen erforderlich sein, wenn der Schweregrad der Neutropenie bestimmt wird.

Der Schweregrad der Neutropenie bezieht sich auf das relative Infektionsrisiko und wird wie folgt klassifiziert:

  • Mild: 1000 bis 1500/mcl (1 bis 1,5 × 109/l)

  • Moderat: 500 bis 1000/mcl (0,5 bis 1 × 109/l)

  • Schwer: < 500/mcl (< 0,5 × 109/l)

Sinken die Neutrophilen auf Werte < 500/mcl ab, so kann die endogene mikrobielle Flora (z. B. im Mund oder Gastrointestinaltrakt) Infektionen auslösen. Wenn der Wert auf < 200/mcl (< 0,2 × 109/l), sinkt, kann die Entzündungsreaktion gänzlich ausbleiben, und die üblichen Entzündungszeichen einer Leukozytose oder Leukozyten im Urin oder an der Infektionsstelle treten möglicherweise nicht auf. Akute, schwere Neutropenie, insbesondere wenn ein anderer Faktor (z. B. Krebs) vorliegt, beeinträchtigt das Immunsystem erheblich und kann zu schnell tödlichen Infektionen führen. Einfluss auf das Infektionsrisiko haben darüber hinaus die Integrität der Haut und der Schleimhautmembranen, die Gefäßversorgung des Gewebes und der Ernährungsstatus des Patienten.

Die am häufigsten auftretenden Infektionen bei Patienten mit einer schwerwiegenden Neutropenie sind

Gefäßkatheter und andere Punktionsstellen führen zu einem zusätzlichen Risiko für Hautinfektionen. Am weitesten verbreitet sind bakterielle Infektionen mit Koagulase-negativen Staphylokokken und Staphylococcus aureus, andere grampositive und gramnegative Infektionen treten aber ebenfalls auf. Weitere häufige Infektionen sind Stomatitis, Gingivitis, perianale Entzündungen, Kolitis, Sinusitis, Nagelbettentzündungen und Otitis media. Patienten mit längerer Neutropenie nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation oder Chemotherapie sowie Patienten, die Breitbandantibiotika und hohe Dosen von Kortikosteroiden erhalten, sind für Pilzinfektionen prädisponiert.

Klinischer Rechner

Ätiologie der Neutropenie

Akute Neutropenie (die über Stunden bis zu einigen Tagen auftritt) kann sich als Folge des schnellen Gebrauchs entwickeln.

  • Schnelle Verwendung oder Zerstörung von Neutrophilen

  • Beeinträchtigte Produktion von Neutrophilen

Eine chronische Neutropenie, die Monate oder Jahre anhalten kann, entsteht meist aals Folge

  • Reduzierte Produktion

  • Übermäßige Milzsequestrierung

Neutropenie kann auch klassifiziert werden als

  • Primär aufgrund eines intrinsischen Defekts der myeloischen Zellen des Knochenmarks

  • Sekundär aufgrund von Faktoren, die extrinsisch für myeloische Zellen des Knochenmarks sind

Siehe auch Tabelle Klassifikation der Neutropenien.

Tabelle

Neutropenien durch einen intrinsischen Defekt der myeloischen Zellen und ihrer Vorläufer

Neutropenie, die durch intrinsische Defekte in myeloischen Zellen oder deren Vorläufern verursacht wird, ist selten (1, 2). Wenn vorhanden, sind die häufigsten Ursachen

  • Chronisch idiopathische Neutropenie

  • Kongenitale Neutropenie

Die chronische idiopathische Neutropenie ist eine Form der chronischen Neutropenie, bei der das übrige Immunsystem intakt zu sein scheint. Auch wenn die Neutrophilenzahl < 200/mcl (< 0,2 × 109/l) beträgt, sind schwere Infektionen selten, wahrscheinlich weil Neutrophile als Reaktion auf eine Infektion in ausreichender Menge produziert werden. Es ist häufiger bei Frauen.

Die schwere kongenitale Neutropenie (Kostmann-Syndrom) ist eine heterogene Gruppe von seltenen Erkrankungen, die durch einen Stillstand der myeloischen Reifung im Promyelozytenstadium im Knochenmark gekennzeichnet sind, was zu einer absoluten Neutrophilenzahl von < 200/mcl (< 0,2 × 109/l) und signifikanten Infektionen ab dem Säuglingsalter führt. Schwere kongenitale Neutropenie wird in der Regel autosomal-dominant vererbt, kann aber auch rezessiv, X-chromosomal oder sporadisch auftreten.

Es wurden mehrere genetische Anomalien identifiziert, die eine schwere kongenitale Neutropenie verursachen, darunter Mutationen, die die neutrophile Elastase (ELANE), CLPB, HAX1, GFI1, und sehr selten den G-CSF-Rezeptor (Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor) (CSF3R) betreffen. Fast alle Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie sprechen auf eine G-CSF-Therapie an, aber bei Patienten, die schlecht auf G-CSF ansprechen, und bei Patienten, die eine Myelodysplasie oder akute myeloische Leukämie entwickeln, kann eine hämatopoetische Stammzelltransplantation erforderlich sein.

Die zyklische Neutropenie ist eine seltene autosomal-dominant vererbte Störung der Granulopoese und wird in der Regel durch eine Mutation im Gen für neutrophile Elastase (ELANE) verursacht, die zur Apoptose führt. und zeichnet sich durch regelmäßige, periodische Schwankungen der peripheren Neutrophilenzahlen aus. Die mittlere Oszillationszeit beträgt 21 ± 3 Tage. In den meisten Fällen sind auch Zyklen anderer Blutzellen erkennbar.

Die gutartige ethnische Neutropenie tritt bei Angehörigen einiger ethnischer Gruppen auf (z. B. bei einigen Menschen afrikanischer, nahöstlicher oder jüdischer Abstammung). Patienten haben normalerweise niedrigere Neutrophilenzahlen, aber kein erhöhtes Infektionsrisiko. In einigen Fällen wurde dieser Befund mit dem Duffy Erythrozyten-Antigen in Verbindung gebracht. Einige Experten glauben, dass Neutropenie in diesen Populationen mit dem Schutz von Malaria im zusammenhang steht.

Seltene angeborene Syndrome (z. B. Knorpel-Haar-Hypoplasie-Syndrom, Chédiak-Higashi-Syndrom, Dyskeratosis congenita, Glykogenspeicherkrankheit Typ Ib, Shwachman-Diamond-Syndrom, Warzen, Hypogammaglobulinämie, Infektionen, Myelokathexis [WHIM]-Syndrom) können mit Knochenmarkversagen einhergehen, das eine Neutropenie verursacht.

Neutropenie ist auch ein Merkmal der Myelodysplasie, bei der sie mit megaloblastoiden Merkmalen im Knochenmark einhergehen kann, und der aplastischen Anämie. Neutropenie kann bei Dysgammaglobulinämie und paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie auftreten.

Sekundäre Neutropenien

Sekundäre Neutropenien können durch verschiedene Medikamente, eine Knochenmarkinfiltration oder -verdrängung, verschiedene Infektionen oder immunologische Reaktionen bedingt sein.

Die häufigsten Ursachen sind:

  • Arzneimittel

  • Infektionen und Immunreaktionen

  • Knochenmarkinfiltrierende Prozesse

Die arzneimittelinduzierte Neutropenie ist die häufigste Neutropenieform. Medikamente können die Produktion von Neutrophilen durch toxische, idiosynkratische oder überempfindliche Mechanismen vermindern; oder sie können die Zerstörung von peripheren Neutrophilen durch Immunmechanismen erhöhen. Nur der toxische Mechanismus verursacht dosisbedingte Neutropenie.

Schwere dosisabhängige Neutropenien treten vorhersehbar nach der Verabreichung von antineoplastischen Zytostatika, Phenothiazinen oder Strahlentherapie aufgrund der Unterdrückung der Knochenmarkproduktion auf.

Idiosynkratische Reaktionen sind unvorhersehbar und können bei einer Vielzahl von Arzneimitteln, darunter auch homöopathische Substanzen oder Extrakte, und Toxinen auftreten.

Überempfindlichkeitsreaktionen sind selten und betreffen gelegentlich Antiepileptika (z. B. Phenytoin, Phenobarbital), Methimazol oder Propylthiouracil. Diese Reaktionen können wenige Tage bis mehrere Jahre andauern. Durch Hypersensitivität induzierte Neutropenien werden häufig von einer Hepatitis, Nephritis, Pneumonie oder aplastischen Anämie begleitet.

Bei der immunvermittelten arzneimittelinduzierten Neutropenie fungieren Medikamente vermutlich als Haptene und stimulieren so die Antikörperbildung. Diese Neutropenieform persistiert meist etwa 1 Woche nach dem Absetzen des Medikaments. Sie kann durch Aminopyrin, Clozapin, Propylthiouracil und andere Schilddrüsenhemmer, Penicillin oder andere Antibiotika ausgelöst werden.

Neutropenie durch ineffektive Knochenmarkproduktion kann bei megaloblastischen Anämie durch Vitamin B12-Mangel oder Folatmangel auftreten. Hierbei entwickelt sich meistens eine makrozytäre Anämie und parallel dazu gelegentlich auch eine Thrombozytopenie. Eine ineffektive Produktion kann auch einhergehen myelodysplastische Erkrankungen und akute myeloische Leukämie.

Eine Knochenmarkinfiltration durch leukämische Zellen, Myelome, Lymphome oder metastasierte solide Tumoren (z. B. Brusttumoren-oder Prostatatumoren) kann die Produktion der Neutrophilen beeinträchtigen. Eine tumorassoziierte Myelofibrose kann zu einer weiteren Verstärkung der Neutropenie führen. Die Myelofibrose kann auch infolge granulomatöser Infektionen, des Morbus Gaucher oder einer Bestrahlungstherapie auftreten.

Ein Hypersplenismus jeglicher Ursache kann zu einer mäßigen Neutropenie, Thrombozytopenie und Anämie führen.

Infektionen führen entweder über eine Beeinflussung der Neutrophilenproduktion, eine immunologisch bedingte Zerstörung oder den gesteigerten Umsatz der Neutrophilen zur Neutropenie. Eine Sepsis stellt eine besonders schwere Ursache dar. Eine Neutropenie tritt häufig als Folge der Viruserkrankungen im Kindesalters innerhalb der ersten 1–2 Tage der Krankheit auf, dauert jedoch nur 3–8 Tage an. Eine Umverteilung von Neutrophilen aus dem zirkulierenden in den marginalen Pool kann durch eine Virusinfektion oder Endotoxine bedingt sein und zu einer vorübergehenden Neutropenie führen. Auch Alkohol kann durch die Inhibition einer chemotaktischen Knochenmarkantwort bei bestimmten Infektionen (z. B. Pneumokokkenpneumonie) zu einer Neutropenie führen.

Immundefekte können Neutropenie verursachen. Eine neonatale Isoimmun-Neutropenie kann bei fetaler/mütterlicher Neutrophilen-Antigen-Inkompatibilität auftreten, die mit einem transplazentaren Transfer von IgG-Antikörpern gegen die Neutrophilen des Neugeborenen einhergeht (am häufigsten gegen das humane neutrophile Antigen [HNA-1]). Eine autoimmun-Neutropenie kann in jedem Alter auftreten und kann in vielen Fällen von idiopathischer chronischer Neutropenie wirksam sein. Tests auf antinutrophile Antikörper (Immunfluoreszenz, Agglutination oder Durchflusszytometrie) sind nicht immer verfügbar oder verlässlich.

Autoimmunneutropenien können sowohl akut als auch chronisch oder rekurrierend auftreten. Hierbei können Antikörper direkt gegen zirkulierende Neutrophile oder neutrophile Vorläuferzellen vorkommen. Sie können auch die Zytokine (z. B. Gamma-Interferon, Tumor-Nekrose-Faktor) betreffen, die zu neutrophiler Apoptose führen können. Die meisten Patienten mit Autoimmun-Neutropenie haben eine zugrunde liegende Autoimmunerkrankung oder lymphoproliferative Störung (z. B. große granuläre Lymphozyten [LGL-Syndrom [eine klonale Erkrankung von großen granulären Lymphozyten], systemischer Lupus erythematodes, Felty-Syndrom). Chronische sekundäre Neutropenie begleitet oft HIV-Infektionen aufgrund einer beeinträchtigten Produktion von Neutrophilen und einer beschleunigten Zerstörung von Neutrophilen durch Antikörper.

Literatur zur Ätiologie

  1. 1. Dale DC: How I diagnose and treat neutropenia. Curr Opin Hematol 23(1):1-4, 2016. doi: 10.1097/MOH.0000000000000208

  2. 2. Skokowa J, Dale DC, Touw IP, et al: Severe congenital neutropenias. Nat Rev Dis Primers 3:17032, 2017. doi: 10.1038/nrdp.2017.32

Symptome und Anzeichen von Neutropenie

Die Neutropenie selbst ist bis zum Auftreten von Infektionen asymptomatisch. Fieber ist häufig der einzige Hinweis auf eine vorliegende Infektion. Bei schwerer Neutropenie können die typischen Anzeichen einer fokalen Entzündung (Erythem, Schwellung, Schmerz, Infiltrate) abgeschwächt sein oder fehlen. Lokale Symptome (z. B. orale Ulzera) können auftreten, sind jedoch oft nur sehr schwach ausgeprägt. Bei Patienten mit arzneimittelbedingter Neutropenie aufgrund einer Überempfindlichkeitsreaktion kann es zu Fieber, Hautausschlag und Lymphadenopathie als Folge der Überempfindlichkeitsreaktion kommen.

Einige Patienten mit einer chronischer idiopatischer Neutropenie und Neutrophilenzahlen < 200/mcl (< 0,2 × 109/l) haben nicht viele schwere Infektionen. Patienten mit zyklischer Neutropenie oder schwerer kongenitaler Neutropenie leiden häufig an oralen Ulzerationen, Stomatitis oder Pharyngitis sowie Lymphknotenvergrößerungen in den Phasen der schweren Neutropenie. Oftmals treten Pneumonien und Sepsis auf.

Diagnose der Neutropenie

  • Klinischer Verdacht (wiederholte oder ungewöhnliche Infektionen)

  • Bestätigung durch Blutbild mit Differenzialblutbild

  • Abklärung einer Infektion mit Kulturen und Bildgebung

  • Identifikation des zugrunde liegenden Mechanismus und der Ursache der Neutropenie

Bei Patienten mit häufigen schweren oder ungewöhnlichen Infektionen oder bei Risikopatienten (z. B. nach Gabe zytotoxischer Arzneimittel oder Strahlentherapie) muss eine Neutropenie vermutet werden. Die Bestätigung erfolgt durch ein Gesamtblutbild mit Differenzialzählung.

Abklärung einer Infektion

Am wichtigsten ist es festzustellen, ob der Patient aktuell an einer Infektion leidet. Da die Infektionszeichen unter Umständen nur sehr gering ausgeprägt sind, ist eine systematische körperliche Untersuchung notwendig, in die die häufigsten Entstehungsorte für Infektionen einbezogen werden.

  • Schleimhautoberflächen, z. B. des Verdauungstrakts (Zahnfleisch, Rachen, Anus)

  • Nebenhöhlen

  • Lunge

  • Abdomen

  • Harnwege

  • Haut und Fingernägel

  • Venenpunktionsstellen

  • Gefäßkatheter

Tritt die Neutropenie akut und ernsthaft auf, sollten die Laboruntersuchungen zügig erfolgen.

Kulturen sind die Eckpfeiler der Abklärung. Von allen fiebrigen Patienten werden mindestens 2 Probensätze für bakterielle und pilzliche Blutkulturen entnommen. Wenn ein Dauerkatheter vorhanden ist, werden Proben aus dem Katheter und aus einer separaten peripheren Vene entnommen. Persistierend oder chronisch auftretendes Sekretionmaterial sollte auch auf Bakterien, Pilze und atypische Mikrobakterien untersucht werden. Die Schleimhautgeschwüre werden abgetupft und eine Untersuchung auf Herpes-Virus und Candida vorgenommen. Bei vorliegenden Hautläsionen sollten Abstriche und Biopsien für eine zytologische und mikrobiologische Untersuchung entnommen werden. Proben für den Urinstatus und Urinkulturen werden von allen Patienten entnommen. Bei Diarrhö wird der Stuhl auf enterische bakterielle Pathogene und Clostridioides (früher Clostridium) difficile-Toxine untersucht. Sputum-Kulturen werden erlangt, um Lungeninfektionen zu untersuchen.

Bildgebende Verfahren sind von Nutzen. Ein Röntgenbild des Thorax wird bei allen Patienten gemacht. Ein Thorax-CT kann auch bei Patienten mit Neutropenie erforderlich sein. Liegen klinische Zeichen einer Sinusitis vor (z. B. lageabhängige Kopfschmerzen, Schmerzen im Oberkiefer, Gesichtsschwellungen oder Rhinitis), kann eine Computertomographie der Nasennebenhöhlen sinnvoll sein. Eine Computertomographie des Bauches erfolgt in der Regel, wenn die Symptome (z. B. Schmerzen) oder die Anamnese (z. B. kürzlich erfolgte Operation) auf eine intraabdominelle Infektion hinweisen.

Abklärung der Ursache

Anschließend sollte der Grund für die Neutropenie abgeklärt werden. Die Anamnese befasst sich mit der Familienanamnese, dem Vorhandensein anderer Erkrankungen, der Einnahme von Arzneimitteln oder anderen Präparaten, Haustieren und der möglichen Toxinexposition oder -einnahme.

Die körperliche Untersuchung adressiert das Vorhandensein von Splenomegalie, Lymphadenopathie, Hautläsionen (z. B. Erytheme, Makulae, Papeln, Pusteln) und Zeichen anderer zugrunde liegender Erkrankungen (z. B. Arthritis).

Wenn keine offensichtliche Ursache gefunden wird (z. B. Chemotherapie), ist der wichtigste Test

  • Untersuchung des Knochenmarks

Durch eine Untersuchung des Knochenmarks kann untersucht werden, ob der Neutropenie eine verminderte Produktion im Knochenmark zugrunde liegt oder ob sie sekundär durch eine vermehrte Zellzerstörung bedingt ist (hierbei ist die Produktion der myeloischen Zellen im Knochenmark normal oder sogar gesteigert). Die Untersuchung des Knochenmarks kann auch Hinweise auf die spezifische Ursache der Neutropenie geben (z. B. aplastische Anämie, Myelofibrose, eine myelodysplastische Erkrankung, akute Leukämie, metastasierender Krebs, Knochenmarknekrose).

Je nach Verdachtsdiagnose können weitere Tests, wie z. B. Durchflusszytometrie und T-Zell-Rezeptor-Gen-Rearrangement für das LGL-Syndrom, erforderlich sein, um die Ursache der Neutropenie zu bestimmen. Bei Patienten mit erhöhtem Ernährungsrisiko werden die Werte von Kupfer, Folsäure und Vitamin B12 ermittelt. Ein Test auf antineutrophile Antikörper wird bei Verdacht auf eine immunologisch bedingte Neutropenie durchgeführt.

Die Differenzierung zwischen antibiotika- und infektionsinduzierter Neutropenie kann mitunter schwierig sein. Die Leukozytenzahlen unmittelbar vor Beginn der Antibiotikatherapie spiegeln meist die Änderungen der Blutwerte aufgrund der Infektion wider.

Bei Patienten, die seit ihrer Kindheit an chronischer Neutropenie leiden und bei denen in der Vorgeschichte immer wieder Fieber und chronische Zahnfleischentzündungen aufgetreten sind, sollte die Anzahl der weißen Blutkörperchen mit Differenzialdiagnose dreimal wöchentlich über einen Zeitraum von sechs Wochen bestimmt werden, damit die Periodizität, die auf eine zyklische Neutropenie hindeutet, bewertet werden kann. Gleichzeitig sollten Thrombozyten- und Retikulozytenzählungen erfolgen. Bei Patienten mit zyklischer Neutropenie wechseln Eosinophile, Retikulozyten und Thrombozyten häufig synchron mit den Neutrophile, während Monozyten und Lymphozyten aus der Phase geraten können.

Molekulargenetische Tests auf ELANE und andere Gene sind angebracht, wenn kongenitale Ursachen in Betracht gezogen werden.

Behandlung der Neutropenie

  • Behandlung der begleitenden Befunde (z. B. Infektionen, Stomatitis)

  • Gelegentlich Antibiotikaprophylaxe

  • Myeloische Wachstumsfaktoren

  • Absetzen von vermutlich auslösenden Substanzen (z. B. Arzneimittel)

  • Gelegentlich Kortikosteroide

Akute Neutropenie

Bei Verdacht auf eine Infektion sollte unverzüglich mit einer Behandlung begonnen werden. Bei Fieber oder Hypotonie muss eine schwere Infektion angenommen werden, und es sollte umgehend eine empirische, hoch dosierte, intravenöse Therapie mit Breitspektrumantibiotika erfolgen. Die Auswahl des jeweiligen Antibiotikums richtet sich nach dem Mikroorganismus, der für die Art der Infektion am ehesten verantwortlich sein kann, dem Erregerspektrum der jeweiligen Klinik und der potenziellen Toxizität der Therapie. Aufgrund des Risikos einer Resistenzentwicklung sollte Vancomycin nur bei Verdacht auf eine Infektion mit grampositiven Bakterien, bei denen eine Resistenz gegenüber anderen Arzneimittel vermutet wird, verwendet werden.

Gefäßverweilkatheter können in der Regel auch bei Verdacht auf Bakteriämie oder bei nachgewiesener Bakteriämie verbleiben. Eine Entfernung wird jedoch erwogen, wenn Infektionen mit S. aureus, Bacillus, Corynebacterium oder Candida oder einem anderen Pilz vorliegen oder wenn die Blutkulturen trotz geeigneter Antibiotika anhaltend positiv sind. Infektionen, die durch Koagulase-negative Staphylokokken ausgelöst werden, sprechen üblicherweise gut auf eine antimikrobielle Therapie an.

Bei diesen neutropenischen Patienten können auch liegende Foley-Katheter Infektionen begünstigen; daher sollte ein Wechsel oder eine Entfernung des Katheters bei persistierenden Harnwegsinfektionen in Betracht gezogen werden.

Beim kulturellen Nachweis von Erregern sollte die Antibiotikatherapie gemäß der Resistenzteste angepasst werden. Entfiebert der Patient innerhalb von 72 Stunden, wird die antibiotische Therapie für mindestens 7 Tage bzw. so lange fortgesetzt, bis der Patient keine Symptome einer Infektion mehr zeigt. Bei vorübergehender Neutropenie (z. B. nach einer myelosuppressiven Chemotherapie) wird die Antibiotikatherapie in der Regel fortgesetzt, bis die Neutrophilenzahl > 500/mcl (> 0,5 × 109/l) ist. Bleiben die Kulturen jedoch negativ, kann bei ausgewählten Patienten mit anhaltender Neutropenie ein Absetzen der antimikrobiellen Mittel in Betracht gezogen werden, insbesondere bei Patienten, bei denen die Symptome und Anzeichen einer Entzündung abgeklungen sind.

Fieber, das trotz Antibiotikatherapie > 72 Stunden anhält, ist ein Hinweis auf:

  • eine nicht bakterielle Ursache,

  • eine Infektion mit einer resistenten Spezies,

  • eineSuperinfektion mit einer zweiten Bakterienart,

  • unzureichende Serum- oder Gewebespiegel der Antibiotika,

  • eine lokalisierte Infektion, wie z. B. ein Abszess.

Bei neutropenischen Patienten mit persistierendem Fieber sollten in regelmäßigen Abständen (alle 2–4 Tage) eine körperliche Untersuchung, mikrobiologische Kulturen und ein Röntgenthorax durchgeführt werden. Sofern sich der Patient klinisch nicht verschlechtert, kann trotz Fiebers das initiale antibiotische Regime fortgeführt und drogeninduziertes Fieber sollte in Betracht gezogen werden. Anderenfalls sollte eine Umstellung der antibiotischen Therapie erfolgen (1).

Pilzinfektionen sind der häufigste Grund für persistierendes Fieber und klinische Verschlechterung des Patienten. Daher sollte eine antimykotische Therapie empirisch ergänzt werden, wenn trotz Einsatz eines Breitspektrumantibiotikums über 3 bis 4 Tage hinaus unklares Fieber besteht. Die Wahl des spezifischen Antimyotikums (z. B. Fluconazol, Caspofungin, Voriconazol, Posaconazol) hängt von der Art des Risikos ab (z. B. Dauer und Schweregrad der Neutropenie, Vergangenheit der Pilzinfektion, persistentes Fieber trotz Verwendung eines Antimykotikums des schmaleren Spektrums) und sollte durch einen Spezialisten für Infektionskrankheiten getroffen werden.

Wenn ein Patient nach 3 Wochen unter empirischer Therapie (einschließlich 2 Wochen antimykotischer Therapie) und nach Ende der Neutropenie immer noch nicht fieberfrei ist, können alle antimikrobiellen Arzneimittel abgesetzt und der Grund für das Fieber erneut untersucht werden.

Bei afebrilen Patienten mit Neutropenie kann eine Antibiotikaprophylaxe erwogen werden, obwohl Veränderungen im bakteriellen Mikrobiom die Erholung des Knochenmarks verlangsamen können. Die Behandlung mit Fluorchinolonen (Levofloxacin, Ciprofloxacin) wird in einigen Zentren bei Patienten eingesetzt, die Chemotherapieschemata erhalten, die üblicherweise zu Neutrophilenwerten ≤ 100/mcl (≤ 0,1 x 109/l) für > 7 Tage führen. Die Prophylaxe wird normalerweise durch den behandelnden Onkologen begonnen. Die Antibiotika werden fortgesetzt, bis die Neutrophilenzahl auf > 1500/mcl (> 105 x 109/l) steigt. Eine antimykotische Therapie kann auch bei afebrilen Patienten mit Neutropenie durchgeführt werden, die ein erhöhtes Risiko für Pilzinfektionen haben (z. B. nach Transplantation hämatopoetischer Stammzellen, oder intensiver Chemotherapie bei akuter myeloischer Leukämie oder bei Patienten mit einer myelodysplastischen Störung oder mit einer Anamnese von Pilzinfektionen). Die Auswahl des spezifischen Antimyotikums sollte von einem Spezialisten für Infektionskrankheiten angeleitet werden. Eine Antibiotika- und Antimykotika-Prophylaxe wird nicht routinemäßig für afebrile Patienten mit Neutropenie und ohne Risikofaktoren empfohlen, die aufgrund ihres spezifischen Chemotherapieplans voraussichtlich < 7 Tage lang neutropenisch bleiben werden.

Der myeloische Wachstumsfaktoren (d.h. Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor [G-CSF]) werden häufig verwendet, um die Neutrophilenzahl zu erhöhen und Infektionen bei Patienten nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation oder intensiver Krebs-Chemotherapie zu verhindern. Sind Wachstumsfaktoren indiziert, wenn das Risiko einer febrilen Neutropenie 30% beträgt (Neutrophilenwerte < 500/mcl [< 0,5 x 109/l], Infektion während des vorangegangenen Chemotherapiezyklus, schwerwiegende Begleiterkrankungen oder Alter > 75 Jahre) (2). Im Allgemeinen besteht der größte klinische Nutzen, wenn mit der Verabreichung des Wachstumsfaktors 24 Stunden nach Ende der Chemotherapie begonnen wird. Patienten mit einer Neutropenie, die durch eine idiosynkratische Arzneimittelreaktion verursacht wurde, können ebenfalls vom Granulozytenkolonie-stimulierenden Faktor profitieren, insbesondere wenn eine verzögerte Erholung zu erwarten ist. Die übliche Dosis für G-CSF (Filgrastim) beträgt 5 mcg/kg subkutan einmal täglich, und die Dosis für pegyliertes G-CSF (Pegfilgrastim) beträgt 6 mg subkutan einmal pro Chemotherapiezyklus.

Glukokortikoide, anabole Steroide und Vitamine stimulieren nicht die Produktion von Neutrophilen und sind im Allgemeinen für Patienten mit Neutropenie nicht hilfreich. Besteht der Verdacht, dass eine akute Neutropenie durch ein Medikament oder ein Toxin verursacht wurde, werden alle potenziell ätiologischen Wirkstoffe abgesetzt. Wenn sich während der Behandlung mit einem Antibiotikum, das bekanntermaßen niedrige Werte hervorruft (z. B. Chloramphenicol), eine Neutropenie entwickelt, wird der Wechsel zu einem anderen Antibiotikum empfohlen.

Gurgeln von Salz oder Wasserstoffperoxid alle paar Stunden, flüssige Mundspülungen (mit viskosem Lidocain, Diphenhydramin und flüssigem Antazid), betäubende Lutschtabletten (Benzocain 15 mg alle 3 oder 4 h) oder Chlorhexidin-Mundspülungen (1%ige Lösung) 2-mal oder 3-mal täglich können die Beschwerden von Stomatitis mit oropharyngealen Geschwüren lindern.

Eine orale oder ösophageale Candidiasis kann mit Nystatin-Mundspülungen (400.000–600.000 I.E. 4-mal täglich; bei Ösophagitis die Spülung hinunterschlucken), Clotrimazol-Pastillen (10 mg 5-mal täglich, langsam im Mund auflösen) oder systemischen antimykotischen Arzneimitteln (z. B. Fluconazol) behandelt werden.

Je nach Ausprägung der Beschwerden kann eine halbflüssige oder flüssige Ernährung während der Phase der akuten Stomatitis oder Ösophagitis und topische Analgetika (z. B. Lidocain-Gel) notwendig sein.

Chronische Neutropenie

Die Neutrophilenproduktion und -entfaltung bei kongenitaler Neutropenie, zyklischer Neutropenie und idiopathischer Neutropenie wird in der Regel durch die Verabreichung von G-CSF 1 bis 10 mcg/kg subkutan einmal täglich gesteigert, wobei mit einer niedrigen Dosis begonnen und diese bis zu einem Spiegel von etwa 1000/mcL (1 × 109/l) erhöht wird (3). Die Wirksamkeit wird mit täglichem oder intermittierendem Granulozytenkolonie-stimulierenden Faktor über Monate oder Jahre aufrechterhalten

Eine Langzeitgabe von Granulozytenkolonie-stimulierendem Faktor wird auch bei anderen Patienten mit leichter chronischer Neutropenie eingesetzt (darunter auch bei Patienten mit Myelodysplasie, HIV Infektion, anderen Autoimmunkrankheiten). Der klinische Nutzen einer Behandlung mit Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF) ist weniger eindeutig, insbesondere bei Patienten, die keine schwere Neutropenie haben. Für Patienten mit Autoimmunerkrankungen, wie einige Patienten, die das LGL-Syndrom haben oder die eine Organtransplantation hatten, kann Ciclosporin ebenfalls vorteilhaft sein.

In der Vergangenheit wurde die Splenektomie eingesetzt, um die Neutrophilenzahl bei Patienten mit Splenomegalie und Milzsequestrierung von Neutrophilen (z. B. Felty-Syndrom) zu erhöhen; da Wachstumsfaktoren und andere neuere Therapien jedoch oft wirksam sind, sollte die Splenektomie vermieden werden. Die Splenektomie kann bei Patienten mit anhaltend schmerzhafter Splenomegalie oder schwerer Neutropenie (d. h. < 500/mcl [< 0,5 × 109/l]) und schwerwiegenden Problemen mit Infektionen, bei denen andere Behandlungen versagt haben, in Betracht gezogen werden. Da Splenektomie eine Infektion durch verkapselte Organismen begünstigt, sollten Patienten vor Splenektomie gegen Infektionen mit Streptococcus pneumoniae, Neisseria meningitidis und Haemophilus influenzae geimpft werden.

Literatur zur Behandlung

  1. 1. Pizzo PA: Management of patients with fever and neutropenia through the arc of time: A narrative review. Ann Intern Med 170(6):389-397, 2019. doi: 10.7326/M18-3192

  2. 2. Becker PS, Griffiths EA, Alwan LM, et al: NCCN guidelines insights: Hematopoietic growth factors, version 1.2020. J Natl Compr Canc Netw 18(1):12-22, 2020. doi: 10.6004/jnccn.2020.0002

  3. 3. Dale DC, Bolyard AA, Shannon JA, et al: Outcomes for patients with severe chronic neutropenia treated with granulocyte colony-stimulating factor. Blood Adv 6(13):3861-3869, 2022. doi: 10.1182/bloodadvances.2021005684

Wichtige Punkte

  • Die Neutrophilen stellen die Hauptabwehr des Körpers gegen bakterielle und mykotische Infektionen dar.

  • Das Infektionsrisiko ist proportional zur Schwere der Neutropenie; Patienten mit neutrophilen Granulozyten < 500/mcl (< 0,5 × 109/l) sind am stärksten gefährdet.

  • Da die Entzündungsreaktion begrenzt ist, können klinische Befunde ausbleiben, auch wenn meist Fieber auftritt.

  • Febrile neutropenische Patienten werden empirisch mit Breitspektrumantibiotika bis zur endgültigen Identifizierung der Infektion behandelt.

  • Eine Antibiotikaprophylaxe kann bei Hochrisikopatienten als kurzfristige Strategie angezeigt sein.