Diagnose

VonEvan M. Braunstein, MD, PhD, Johns Hopkins University School of Medicine
Überprüft/überarbeitet Juli 2022
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Als Anämie wird eine Verminderung der Anzahl der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) gemessen am Hämatokrit- oder der Hämoglobinspiegel bezeichnet.

Bei Männern ist Anämie definiert als eine der folgenden Eigenschaften:

  • Hämoglobin, < 14 g/dl (< 140 g/l)

  • Hämatokrit < 42% (< 0,42)

  • Erythrozyten < 4,5 Mio./mcl (< 4,5 × 1012/l)

Bei Frauen ist Anämie definiert als eines der folgenden Merkmale:

  • Hämoglobin, < 12 g/dl (< 120 g/l)

  • Hämatokrit < 30% (< 0,37)

  • Erythrozyten < 4 Mio./mcL (< 4 × 1012/l)

Bei Kleinkindern und Kindern variieren die Normwerte abhängig vom Alter, sodass hier entsprechende Alterstabellen genutzt werden sollten (siehe Tabelle Altersabhängige Werte für Hämoglobin und Hämatokrit).

Die Anämie ist im eigentlichen Sinne keine Diagnose, sondern die Manifestation einer zugrunde liegenden Krankheit. (siehe Ätiologie der Anämie). Daher sollte auch beim Vorliegen einer leichten, asymptomatischen Anämie nach der Primärkrankheit gesucht und diese therapiert werden.

Anämie wird in der Regel aufgrund der Anamnese und der körperlichen Untersuchung vermutet. Zu den häufigsten Symptomen und Anzeichen einer Anämie gehören

  • Allgemeine Müdigkeit

  • Schwäche

  • Dyspnoe bei Anstrengung

  • Blässe

Nach Anamnese und körperlicher Untersuchung werden Labortests durchgeführt, bei denen ein komplettes Blutbild, die Retikulozytenzahl und ein peripherer Abstrich bestimmt werden. Die Differentialdiagnose (und die Ursache der Anämie) kann dann basierend auf den Testergebnissen weiter verfeinert werden.

Tipps und Risiken

  • Die Anämie ist im eigentlichen Sinne keine Diagnose, sondern die Manifestation einer zugrunde liegenden Krankheit. Daher sollte auch beim Vorliegen einer leichten, asymptomatischen Anämie nach der Primärkrankheit gesucht und diese therapiert werden.

Patientenanamnese bei Anämie

Die Anamnese sollte ansprechen

  • Risikofaktoren für bestimmte Anämien

  • Symptome der Anämie selbst

  • Symptome, die die zugrunde liegende Störung widerspiegeln

Risikofaktoren für Anämie

Es gibt viele Risikofaktoren für eine Anämie. Beispielsweise prädisponiert eine veganische Lebensweise für eine Vitamin-B12-Mangel-Anämie, während Alkoholismus mit einem erhöhten Risiko für eine Anämie durch Folsäuremangel einhergeht. Einige Hämoglobinopathien sind angeboren; auch verschiedene Arzneimittel und Infektionen begünstigen eine Hämolyse. Krebs, rheumatische Erkrankungen und chronisch entzündliche Erkrankungen können die Produktion roter Blutkörperchen unterdrücken. Autoimmunerkrankungen wie systemischer Lupus erythematodes oder Lymphom können für autoimmune hämolytische Anämie prädisponieren.

Symptome der Anämie

Die klinischen Symptome einer Anämie sind weder spezifisch noch bei der Differenzierung der verschiedenen Anämieformen hilfreich. Die Symptome spiegeln kompensatorische Reaktionen auf eine Gewebehypoxie wider und entwickeln sich in der Regel, wenn der Hämoglobin-Spiegel deutlich unter den individuellen Ausgangswert des Patienten fällt. Im Allgemeinen sind die Symptome bei Patienten mit eingeschränkter kardiopulmonaler Reserve oder wenn sich die Anämie sehr schnell entwickelt, ausgeprägter.

Symptome wie Schwäche, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, pektanginöse Beschwerden, Synkopen oder Belastungsdyspnoe können auf eine Anämie hinweisen. Des Weiteren kann es zur Ausbildung von Schwindel, Kopfschmerzen, pulsatilem Tinnitus, Amenorrhoe, Libidoverlust oder gastrointestinalen Symptomen kommen.

Bei Patienten mit schwerer Gewebehypoxie oder Hypovolämie können Herzversagen oder Schock auftreten.

Symptome, die auf eine Anämie hindeuten

Einige Symptome können jedoch bereits auf die Ursache der Anämie hindeuten. So weisen z. B. Teerstühle, Epistaxis, Hämatochezie, Hämatemesis oder Menorrhagie auf eine Blutung hin. Gelbsucht und dunkler Urin deuten bei Patienen ohne Lebererkrankungen auf eine Hämolyse hin. Gewichtsverlust kann Anzeichen eines Tumorleidens sein. Eine Sichelzellanämie äußert sich unter Umständen in Form von starken Knochen- oder Thoraxschmerzen. Ein Vitamin-B12- Mangel kann durch Parästhesien der distalen Extremitäten auffällig werden.

Körperliche Untersuchung bei Anämie

Eine komplette körperliche Untersuchung ist unabdingbar. Die klinischen Zeichen für eine Anämie sind nicht spezifisch, jedoch findet sich bei schwerer Anämie häufig eine Blässe.

Die klinischen Zeichen der Grunderkrankung sind diagnostisch wegweisender als die Zeichen der Anämie selbst. Positive Haemoccult-Tests weisen auf eine gastrointestinale Blutung hin. Eine akute Blutung kann einen hämorrhagischen Schock (z. B. Hypotonie, Tachykardie, Blässe, Tachypnoe, Schwitzen, Verwirrtheit;) zur Folge haben. Ikterus kann ein Symptom für eine Hämolyse sein. Eine Splenomegalie kann bei Hämolyse, aber auch bei Hämoglobinopathien, Bindegewebekrankheiten, myeloproliferativen Krankheiten, Infektionen oder Tumorerkrankungen auftreten. Eine periphere Neuropathie weist auf einen Vitamin-B12-Mangel hin. Fieber und Herzgeräusche können auf eine infektiöse Endokarditis hindeuten. In seltenen Fällen entwickelt sich ein High-output-Herzversagen als kompensatorische Reaktion auf eine Anämie-induzierte Gewebehypoxie.

Tests bei Anämie

  • Großes Blutbild mit Anzahl der weißen Blutkörperchen (WBC) und Blutplättchen

  • Erythrozytenindizes und -morphologie

  • Retikulozytenzahl

  • Peripherer Blutausstrich

  • Gelegentlich Knochenmarkaspiration und -biopsie

Die Laborauswertung beginnt mit einem vollständigen Blutbild (CBC), einschließlich der Anzahl der weißen Blutkörperchen (WBC) und Thrombozyten, RBC-Indizes und Morphologie (mittleres korpuskuläres Volumen [MCV], mittleres korpuskuläres Hämoglobin [MCH], mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration [MCHC], Verteilungsbreite der roten Blutkörperchen [RDW]) und Untersuchung des peripheren Abstrichs. Die Retikulozytenzahl zeigt, wie gut das Knochenmark die Anämie ausgleicht. Die daraufhin erfolgenden Untersuchungen sollten anhand dieser Ergebnisse und des klinischen Bildes ausgewählt werden. Die Kenntnis allgemeiner Diagnosekriterien kann zur Beschleunigung der Diagnose beitragen (siehe Tabelle Charakteristische Merkmale häufiger Anämieformen).

Tabelle

Vollständiges Blutbild und Erythrozyten-Indizes

Das automatische CBC misst direkt Hämoglobin, Erythrozytenzahl, Leukozytenzahl und Thrombozytenzahl sowie das mittlere korpuskuläre Volumen (MCV), das ein Maß für das Erythrozytenvolumen ist. Der Hämatokrit, der den prozentualen Anteil der Erythrozyten am Blut angibt, das mittlere korpuskuläre Hämoglobin (MCH), das den Hämoglobingehalt in den einzelnen Erythrozyten angibt, aber keine klinische Bedeutung hat, und die mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCHC), die die Hämoglobinkonzentration in den einzelnen Erythrozyten angibt, sind berechnete Werte.

Das diagnostische Kriterium für Anämie ist

  • Für Männer: Hämoglobin < 14 g/dl (140 g/l), Hämatokrit < 42% (< 0,42) oder Erythrozyten < 4,5 Millionen/mcl (< 4,5 × 10) 12/l)

  • Für Frauen: Hämoglobin < 12 g/dl (120 g/l), Hämatokrit < 37% (< 0,37) oder Erythrozyten < 4 Millionen/mcl (< 4 × 1012/l)

Bei Kleinkindern und Kindern variieren die Normwerte abhängig vom Alter, sodass hier entsprechende Alterstabellen genutzt werden sollten (siehe Tabelle Altersabhängige Werte für Hämoglobin und Hämatokrit).

Erythrozyten werden bei einem mittleren korpuskulären Volumen < 80 fL als mikrozytär (kleine Zellen) und bei einem mittleren korpuskulären Volumen > 100 fL als makrozytär (große Zellen) bezeichnet. Da Retikulozyten jedoch auch größer sind als reife Erythrozyten, kann eine große Anzahl von Retikulozyten den MCV-Wert erhöhen.

Automatisierte Verfahren können auch den Variationsgrad der Erythrozytengröße bestimmen, der durch die Erythrozytenverteilungsbreite (RDW) ausgedrückt wird. Eine hohe Erythrozytenverteilungsbreite kann der einzige Hinweis auf eine parallel vorliegende mikrozytäre und makrozytäre Anämie. Bei diesen Konstellationen liegt ein normales mittleres korpuskuläres Volumen vor, da es lediglich den Mittelwert beschreibt. Der Begriff Hypochromasie bezieht sich auf die Erythrozytenpopulationen, bei denen der MCHC-Wert < 30% beträgt. Erythrozytenpopulationen mit einem normalen Wert der mittleren korpuskulären Hämoglobin-Konzentration (MCHC) sind normochrom. Sphärozyten können einen erhöhten MCHC-Wert aufweisen. Die Erythrozyten verteidigen ihren MCHC-Wert gegenüber ihrem MCV-Wert (Erhaltung des Hämoglobins auf Kosten der Erythrozytengröße), weshalb Mikrozytose bei Eisenmangel und gestörter Hämoglobinsynthese auftritt.

Die Bestimmung der Erythrozytenindizes kann Hinweise auf die Ursache der Anämie geben und schränkt die Anzahl der möglichen Gründe ein.

Mikrozytäre Indizes treten bei veränderter Häm- oder Globinsynthese auf. Die häufigsten Gründe hierfür sind Eisenmangel, Thalassämie und verwandte Hämoglobinsynthese-Defekte. Bei einigen Patienten mit Anämie bei chronischer Grundkrankheit ist das mittlere korpuskuläre Volumen mikrozytär oder zumindest grenzwertig vermindert.

Makrozytäre Indizes findet man eher bei inadäquater DNA-Synthese (z. B. durch Vitamin-B12- oder Folsäuremangel oder Chemotherapeutika wie Hydroxyharnstoff oder Folsäureantagonisten). Auch bei Alkoholismus können makrozytäre Indizes als Folge von Zellmembrandefekten auftreten. Akute Blutungen können aufgrund der Freisetzung von großen jungen Retikulozyten kurzzeitig zu makrozytären Indizes führen.

Normozytäre Indizes treten bei Anämien auf, die auf eine mangelhafte Produktion von Erythropoietin (EPO) oder eine unzureichende Reaktion darauf zurückzuführen sind (hypoproliferative Anämien). Vor Ausbildung eines Eisenmangels liegen bei Blutungen normozytäre und normochrome Anämien vor, sofern keine exzessive Produktion von Retikulozyten stattfindet.

Blutausstrich

Im peripheren Blutausstrich lassen sich eine übermäßige Erythrozytenproduktion und Hämolyse deutlich feststellen. Der periphere Blutausstrich ist dem automatisierten Verfahren hinsichtlich der Erkennung von Erythrozytenstrukturen, Thrombozytopenie, kernhaltigen Erythrozyten oder unreifen Granulozyten überlegen. Durch ihn können auch andere Veränderungen (z. B. Malaria oder andere Parasiten, erythrozytäre Einschlusskörperchen oder Granulozyteneinschlüsse) entdeckt werden. In diesen Fällen liefert die automatisierte Blutzellzählung meist normale Werte. Eine Erythrozytenstörung kann durch das Auffinden von Erythrozytenfragmenten, Teilen von zerbrochenen Zellen (Schistozyten) oder Anzeichen signifikanter Membranveränderungen von sichelförmigen Zellen, ovalen Zellen (Ovalozyten) oder sphärozytären Zellen festgestellt werden. So genannte Targetzellen (dünne Erythrozyten mit zentraler Hämoglobinverdichtung) sind Erythrozyten mit insuffizientem Hämoglobin oder stark verdickten Membranen (z. B. als Folge von Hämoglobinopathien oder Leberfunktionsstörungen). Der periphere Blutausstrich gibt darüber hinaus Auskunft über verschiedene Erythrozytenformen (Poikilozytose) und Größen (Anisozytose).

Retikulozytenzahl

Die Retikulozytenzahl wird entweder als Anteil der Retikulozyten (normal 0,5–1,5%) oder als absolute Retikulozytenzahl (normal 50.000–150.000/mcl, oder 50 bis 150 × 10 9/l) angegeben. Die Retikulozytenzahl ist ein entscheidender Test bei der Beurteilung einer Anämie, da sie Aufschluss über die Reaktion des Knochenmarks gibt und eine Differenzierung zwischen mangelhafter Erythropoese (Erythrozytenproduktion) und übermäßiger Hämolyse (Zerstörung der Erythrozyten) als Ursache der Anämie ermöglicht. Zum Beispiel, höhere Werte deuten auf eine gesteigerte Produktion (Retikulozytose) hin; liegt eine Anämie vor, deutet die Retikulozytose auf eine gesteigerte Erythrozytenzerstörung hin. Hingegen sprechen niedrige Zahlen in dieser Situation für eine verminderte Erythrozytenproduktion.

Retikulozyten lassen sich am besten darstellen, wenn das Blut mit einer supravitalen Färbung angefärbt wird. Da das Erythrozyten-Retikulin jedoch aus RNA besteht, die nur in jungen Erythrozyten vorhanden ist, erscheinen sie in einem Wright-gefärbten Blutausstrich (Polychromatophilie oder Polychromasie) nur bläulich, was eine grobe Abschätzung der Retikulozytenproduktion auf einem Routineblutausstrich ermöglichen kann.

Klinischer Rechner

Knochenmarkaspiration und -biopsie

Eine Knochenmarkaspiration und -biopsie ermöglichen die direkte Beurteilung von Erythrozytenvorstufen. Des Weiteren können Reifungsstörungen von Vorläuferzellen (Dysplasien) sowie die Menge, Verteilung und zelluläre Anordnung des Eisens direkt erfasst werden. Knochenmarkaspiration und Biopsie sind bei der Beurteilung einer Anämie normalerweise nicht indiziert und werden nur durchgeführt, wenn eine der folgenden Bedingungen vorliegt:

  • Ungeklärte Anämie

  • Mehr als eine Zelllinien-Anomalie (d. h. gleichzeitige Anämie und Thrombozytopenie oder Leukopenie)

  • Verdacht auf primäre Knochenmarksstörung (z. B. Leukämie, multiples Myelom, aplastische Anämie, myelodysplastisches Syndrom, metastasiertes Karzinom, Myelofibrose)

Am Knochenmarkaspirat können bei Verdacht auf hämatopoetische oder andere Tumoren sowie angeborene Krankheiten der Erythrozytenvorläufer (z. B. Fanconi-Anämie) auch zytogenetische und molekularbiologische Untersuchungen durchgeführt werden. Zur Immunphänotypisierung kann bei Verdacht auf eine lympho- oder myelodysplastische Krankheit die Durchflusszytometrie eingesetzt werden. Knochenmarkaspiration und -biopsie sind technisch nicht schwierig und stellen kein erhöhtes Morbiditätsrisiko dar. Diese Verfahren sind sicher und hilfreich bei Verdacht auf eine hämatologische Erkrankung. Knochenmarkspunktion und Biopsie können in der Regel in einem einzigen Verfahren durchgeführt werden. Da für die Biopsie eine ausreichende Knochendicke erforderlich ist, wird die Probe normalerweise aus der Spina iliaca posterior superior (seltener auch aus der Spina iliaca anterior superior) entnommen. Bei Verdacht auf ein Myelom oder bei schwerer Osteoporose wird eine ultraschallgesteuerte Biopsie durchgeführt, da dies die sicherste Methode ist, um ein Eindringen in das Becken zu vermeiden.

Andere Tests zur Beurteilung einer Anämie

Serumbilirubin und Laktatdehydrogenase (LDH) können manchmal helfen, zwischen Hämolyse und Blutverlust zu unterscheiden; beide sind in der Hämolyse erhöht und normal im Blutverlust. Andere Tests, wie Vitamin B12 und Folatspiegel und Eisen- und Eisenbindungskapazität, werden in Abhängigkeit von der vermuteten Ursache der Anämie durchgeführt. Weitere Untersuchungen werden in den Kapiteln zu den verschiedenen Anämieformen und Blutungsstörungen besprochen.