Pathophysiologie
Alpha-1-Antitrypsin ist ein Inhibitor der neutrophilen Elastase (eine Antiprotease), deren Hauptfunktion darin besteht, die Lunge vor Gewebezerstörung durch Proteasen zu schützen. Der größte Teil des Alpha-1-Antitrypsins wird in Hepatozyten und Monozyten synthetisiert und diffundiert passiv mit dem Blutkreislauf in die Lunge; ein kleinerer Anteil wird sekundär von Alveolarmakrophagen und Epithelzellen produziert. Die Eiweißstruktur (und damit die Funktionalität) und Quantität des zirkulierenden Alpha-1-Antitrypsins werden durch kodominante Expression der elterlichen Allele bestimmt; > 90 verschiedene Allele sind bisher anhand der Proteaseinhibitor(PI*)-Phänotypen identifiziert und beschrieben worden.
Leber
Die Vererbung mancher Allelvarianten verursacht eine Konformationsänderung des Alpha-1-Antitrypsin-Moleküls, die zu Polymerisation und Retention in den Hepatozyten führt. Die hepatische Akkumulation pathologischer Alpha-1-Antitrypsin-Moleküle verursacht bei 10–20% der Patienten einen neonatalen cholestatischen Ikterus; die übrigen sind wahrscheinlich in der Lage, das pathologische Protein abzubauen, wobei der genaue protektive Mechanismus unklar ist. In ca. 20% der Fälle führt die neonatale Leberbeteiligung zu einer Zirrhose im Kindesalter. Etwa 10% der Patienten (Anm. d. Red.: nach neueren Untersuchungen sogar 30–40%) ohne kindliche Lebererkrankung entwickeln im Erwachsenenalter eine Zirrhose. Hepatische Beteiligung erhöht das Risiko eines Leberzellkarzinoms.
Lunge
In der Lunge führt der Alpha-1-Antitrypsin-Mangel zu erhöhter Aktivität der neutrophilen Elastase, was die Gewebezerstörung erleichtert und zur Emphysembildung führt (insbesondere bei Rauchern, da Zigarettenrauch die Proteasenaktivität ebenfalls steigert). Alpha-1-Antitrypsin-Mangel wird für schätzungsweise 1–2% aller Fälle chronisch obstruktiver Lungenerkrankungen (COPD) verantwortlich gemacht. Der Alpha-1-Antitrypsin-Mangel führt am häufigsten zu vorzeitigen Emphysem; Symptome und Beschwerden einer Lungenbeteiligung treten bei Rauchern früher auf als bei Nichtrauchern, sind aber in beiden Fällen vor dem 25. Lebensjahr selten. Einige Patienten mit Bronchiektasen weisen einen Alpha-1-Antitrypsin-Mangel auf.
Andere Gewebe
Andere Erkrankungen, die mit Alpha-1-Antitrypsin-Allele-Varianten zusammenhängen können, sind Pannikulitis, (eine entzündliche Erkrankung des subkutanen Gewebes), lebensbedrohliche Blutungen (durch eine Mutation, die Alpha-1-Antitrypsin von einer neutrophilen Elastase in einen Inhibitor von Blutgerinnungsfaktoren umwandelt), Aneurysmen, Colitis ulcerosa, antineutrophile- zytoplasmatische-Antikörper (ANCA)-positive Vaskulitis und Glomeruluserkrankungen.
Klassifikation
Der normale PI Phänotyp ist PI* MM. Über 95% der Menschen mit schwerem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel und Emphysem sind homozygot für die Z-Allele (PI*ZZ) und haben Alpha-1-Antitrypsin-Spiegel von ca. 30–40 mg/dl (5–6 μmol/l). Die Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung beträgt 1/1500–1/5000. Meist sind Weiße nordeuropäischer Abstammung betroffen; das Z-Allel kommt bei Menschen mit asiatischer Abstammung und bei Schwarzen selten vor. Obwohl Emphyseme bei PI*ZZ-Patienten häufig auftreten, entwickeln viele nicht rauchende Patienten, die homozygot für PI*ZZ sind, keine Emphysmen. Patienten mit typischer Familienanamnese auf COPD tun es hingegen. PI*ZZ-Raucher weisen eine niedrigere Lebenserwartung als PI*ZZ-Nichtraucher auf, die wiederum eine niedrigere Lebenserwartung als PI*MM-Nichtraucher und -Raucher haben. Nichtraucher, die PI* MZ-heterozygot sind, erleben wahrscheinlich eher einen schnelleren Rückgang der forcierten Einsekundenkapazität (FEV1), als es der Rest der allgemeinen Bevölkerung tut.
Weitere seltene Phänotypen umfassen PI*SZ und zwei Typen mit nichtexprimierenden Allelen, PI*Z-Null und PI*Null-Null (siehe Tabelle Phänotypen bei Alpha-1-Antitrypsin-Mangel). Der Null-Phänotyp führt zu nicht nachweisbaren Serumspiegeln von Alpha-1-Antitrypsin. Selten auftretende Mutationen können mit normalen Serumspiegeln eines funktionsgestörten Alpha-1-Antitrypsins auftreten.
Phänotypen bei Alpha-1-Antitrypsin-Mangel
Symptome und Beschwerden
Neugeborene mit hepatischer Beteiligung zeigen in der ersten Lebenswoche einen cholestatischen Ikterus und Hepatomegalie; der Ikterus verschwindet normalerweise nach 2–4 Lebensmonaten. Eine Leberzirrhose kann sich während der Kindheit oder im Erwachsenenalter entwickeln (Symptomatik von Zirrhose und hepatozellulärem Karzinom werden in anderen Kapiteln des MSD-Manuals ausführlich dargestellt). Erwachsene mit Emphysem weisen Symptome und Anzeichen einer COPD auf, einschließlich Dyspnoe, Husten, Keuchen, und verlängerte Ausatmung.
Der Schweregrad der Lungenerkrankung variiert stark je nach Phänotyp, Raucherstatus und andere Faktoren. Bei einigen PI*ZZ-Rauchern ist die Lungenfunktion gut erhalten und kann bei einigen PI*ZZ-Nichtrauchern schwer beeinträchtigt sein. In Reihenuntersuchungen der Bevölkerung identifizierte PI*ZZ-Träger (d. h. diejenigen ohne Symptomatik oder Lungenerkrankung) zeigen unabhängig vom Rauchverhalten eine bessere Lungenfunktion als die Indexpatienten (diejenigen, die aufgrund ihrer Lungenerkrankung als solche erkannt wurden). Bronchiale Obstruktion tritt bei Männern und Asthmatikern, bei rezidivierenden respiratorischen Infekten, beruflich bedingter Feinstaubexposition und einer für Lungenerkrankungen positiven Familienanamnese häufiger auf.
Die Pannikulitis, eine entzündliche Erkrankung des subkutanen Bindegewebes, manifestiert sich mit indurierten, weichen, depigmentierten Plaques oder Knötchen, typischerweise auf dem unteren Abdomen, dem Gesäß und den Oberschenkeln.
Diagnose
Ein Alpha-1-Antitrypsin-Mangel wird in folgenden Fällen vermutet:
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Raucher, die ein Emphysem vor ihrem 45. Lebensjahr entwickeln.
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Nichtrauchern ohne beruflichen Expositionen, die ein Emphysem entwickeln, egal in welchem Alter
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Patienten, deren Röntgenthorax ein überwiegend geringes Lungenemphysem zeigt
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Patienten mit einer positiven Familienanamnese für Emphyseme oder unerklärliche Leberzirrhose
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Menschen mit einer Familienanamnese von Alpha-1-Antitrypsin-Mangel
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Patienten mit Pannikulitis
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Neugeborene mit Gelbsucht oder Erhöhungen der Leberenzymwerte
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Patienten mit ungeklärten Bronchiektasen oder Lebererkrankungen
Die Diagnose erfolgt durch den Nachweis der Serum-Alpha1-Antitrypsin-Werte < 80 mg/dl (< 15 mcmol/l), gemessen mit der radialen Immundiffusionsmethode oder Werte < 50 mg/dl (< 9 mcmol/l), wenn durch Nephelometrie bestimmt. Bei Patienten mit niedrigen Werten sollte eine Bestätigung durch Genotypisierung erfolgen.
Prognose
Als Gruppe betrachtet, zeigen Personen mit schwerem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel, die nie geraucht haben, eine normale Lebenserwartung bei nur mäßig eingeschränkter Lungenfunktion. Die häufigste Todesursache bei Alpha-1-Antitrypsin-Mangel ist das Emphysem, gefolgt von Zirrhose, oft in Verbindung mit einem Leberzellkarzinom.
Therapie
Die Behandlung bei Lungenbeteiligung erfolgt mit gereinigtem humanem Alpha-1-Antitrypsin (60 mg/kg i.v. über 45–60 min 1-mal/Woche oder 250 mg/kg über 4–6 h 1-mal/Monat [nur gepooltes Substitut]), womit der Alpha-1-Antitrypsin-Serumspiegel über dem protektiven Zielwert von 80 mg/dl (35% des Normalwertes) gehalten werden kann. Da ein Emphysem zu permanenten strukturellen Veränderungen führt, kann die Behandlung zerstörte Lungenstrukturen nicht wiederherstellen oder die Lungenfunktion verbessern, das weitere Fortschreiten jedoch verhindern. Die Behandlung ist teuer und daher für nicht rauchende Patienten, die zwei abnorme Allele sowie eine schwache bis mäßig abnormale Lungenfunktion haben und deren Diagnose durch niedrige Serum-Alpha-1-Antitrypsin-Spiegel bestätigt ist, vorbehalten. Bei Patienten mit schwererer Erkrankung oder bei denen ein oder beide Allele normal sind, ist sie nicht indiziert.
Nikotinkarenz, der Einsatz von Bronchodilatatoren und die frühzeitige Behandlung von Atemwegsinfektionen sind besonders wichtig für Patienten mit Alpha-1-Antitrypsinmangel und Emphysem.
Bei schwer beeinträchtigten Patienten < 60 Jahren sollte eine Lungentransplantation in Betracht gezogen werden. Die Lungenvolumenreduktion bei der Emphysembehandlung von Alpha-1-Antitrypsin-Mangel wird kontrovers diskutiert.
Eine Gentherapie wird in aktuellen Studien untersucht.
Die Behandlung der Lebererkrankung ist rein symptomatisch. Enzymsubstitution hilft nicht, da die Erkrankung durch pathologische Synthese und nicht durch Enzymmangel bedingt ist. Eine Lebertransplantation kann bei Patienten mit Leberversagen erfolgen.
Die Behandlung einer Pannikulitis ist nicht gut untersucht. Kortikosteroide, Antimalariamittel und Tetracykline sind angewandt worden.
Wichtige Punkte
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Von einem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel sollte ausgegangen werden, wenn die Patienten unerklärliche Emphyseme, Lebererkrankungen (vor allem bei Neugeborenen), Pannikulitis oder Bronchiektasen haben.
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Die Diagnose erfolgt durch Nachweis des Serum- Alpha-1-Antitrypsin-Spiegels < 80 mg/dl (< 15 mcmol/l) und wird durch Genotypisierung bestätigt.
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Ausgewählten Patienten (Nichtraucher, bei denen beide Allele von der Norm abweichen und die eine schwach bis mäßig anomale Lungenfunktion besitzen sowie niedrige Serum-Alpha-1-Antitrypsin-Spiegel) werden mit gereinigtem humanem Alpha-1-Antitrypsin behandelt.
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Eine Lebertransplantation sollte bei Leberversagen in Betracht gezogen werden.