Einige Arzneimittelkategorien (z. B. Analgetika, Antikoagulanzien, Antihypertensiva, Antiparkinson-Medikamente, Diuretika, blutzuckersnekende Arzneimittel, Psychopharmaka) bergen besondere Risiken für ältere Patienten. Einige Arzneimittel, die zwar sinnvoll bei jüngeren Erwachsenen eingesetzt werden, sind so risikoreich, dass sie für ältere Menschen als unangemessen angesehen werden sollten. Die Beers-Kriterien werden am häufigsten herangezogen, um solche unangemessen Medikamente zu identifizieren (s. Potenziell unangemessene Arzneimittel bei Älteren (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update)). Die 2012 von der American Geriatrics Society aktualisierten Beers-Kriterien teilen die potenziell unangemessene Medikamente in 3 Gruppen ein:
-
Unangemessen: immer zu vermeiden
-
Potenziell unangemessene: bei bestimmten Krankheiten oder Syndromen zu vermeiden
-
Mit Vorsicht anzuwenden: Der Nutzen kann das Risiko bei einigen Patienten kompensieren (siehe Tabelle: Arzneimittel, die mit Vorsicht bei Älteren anzuwenden sind (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update))
Potenziell unangemessene Arzneimittel bei Älteren (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update)
Arzneimittel, die mit Vorsicht bei Älteren anzuwenden sind (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update)
Analgetika
NSAR werden von > 30% der Patienten im Alter zwischen 65 und 89 Jahren eingenommen, die Hälfte aller NSAR-Rezepte werden für > 60-Jährige ausgestellt. Verschiedene NSAR sind rezeptfrei erhältlich.
Ältere Menschen können anfälliger gegenüber unerwünschten Wirkungen dieser Medikamente sein, und diese Wirkungen können aus folgenden Gründen schwerer ausfallen:
-
NSAR sind sehr gut lipidlöslich, und da das Fettgewebe mit dem Alter zunimmt, ist die Distribution der Wirkstoffe umfangreich.
-
Das Plasmaprotein geht oft zurück, was zu höheren Spiegeln des ungebundenen Wirkstoffs und zu übersteigerten pharmakologischen Wirkungen führt.
-
Die Nierenfunktion ist bei vielen älteren Menschen reduziert, was zu einer verminderten renalen Clearance und zu höheren Wirkstoffspiegeln führt.
Schwerwiegende unerwünschte Wirkungen umfassen peptische Ulzera und Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt. Wenn die Dosis eines bereits angesetzten NSAR erhöht wird, ist dieses Risiko noch höher. Das Risiko von Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt steigt, wenn NSAR mit Warfarin, Aspirin oder anderen Thrombozytenaggregationshemmern gegeben werden (z. B. Clopidogrel). NSAR können das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse erhöhen, eine Flüssigkeitsretention und, selten, eine Nephropathie verursachen.
NSAR können auch blutdrucksteigernd wirken; dieser Effekt kann möglicherweise nicht erkannt werden und zu einer Intensivierung der antihypertensiven Behandlung führen (Verschreibungskaskade– Interaktionen zwischen Arzneimitteln und Erkrankungen). Daher sollten die Ärzte diesen Effekt im Auge behalten, wenn der Blutdruck bei älteren Patienten steigt und sie nach der Einnahme insbesondere von freiverkäuflichen NSAR fragen.
Selektive COX-2(Cylooxygenase-2)-Hemmer (Coxibe) verursachen weniger gastrointestinale Reizungen und eine geringere Thrombozytenaggreagtionshemmung als andere NSAR. Gleichwohl bergen Coxibe noch ein Risiko gastrointestinaler Blutungen, insbesondere für Patienten, die Warfarin oder Aspirin (auch in geringen Dosen) einnehmen, und für Patienten mit bereits stattgehabten gastrointestinalen Blutungen. Die Klasse der Coxibe scheint das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zu erhöhen, dieses kann jedoch je nach Arzneimittel variieren; Coxibe sollten mit Vorsicht eingesetzt werden. Coxibe haben renale Wirkungen, die vergleichbar mit denen anderer NSAR sind.
Es sollten nach Möglichkeit weniger risikoreiche Alternativen (z. B. Paracetamol) verwendet werden. Wenn NSAR bei älteren Patienten eingesetzt werden, sollte die niedrigste wirksame Dosis verwendet und der weitere Bedarf häufig überprüft werden. Bei Langzeitgebrauch von NSAR sollten Serum-Kreatinin und Blutdruck engmaschig überwacht werden, insbesondere bei Patienten mit anderen Risikofaktoren (z. B. Herzinsuffizienz, Nierenschädigung, Zirrhose mit Aszites, Flüssigkeitsentzug, Verwendung von Diuretika).
Antikoagulanzien
Mit dem Alter kann sich die Sensitivität gegenüber der gerinnungshemmenden Wirkung von Warfarin erhöhen. Vorsichtige Dosierung und Routineüberwachung können das erhöhte Blutungsrisiko bei älteren Patienten, die Warfarin einnehmen, weitgehend einschränken. Es ist auch deshalb eine stärkere Überwachung erforderlich, weil Interaktionen mit Warfarin häufig auftreten, wenn neue Medikamente an- oder alte abgesetzt werden; computerassistierte Programme zu Arzneimittelwechselwirkungen sollten hinzugezogen werden, wenn Patienten mehrere Medikamente einnehmen. Die Patienten sollten auch auf Warfarinwechselwirkungen mit Nahrungsbestandteilen, Alkohol und rezeptfreie Medikamente sowie Nahrungsergänzungsmittel überwacht werden. Die neueren Antikoagulanzien (Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban) können einfacher zu dosieren sein, und sie haben weniger Arzneimittelinteraktionen und Lebensmittel-Arzneimittel-Wechselwirkungen als Warfarin, aber erhöhen immer noch das Risiko von Blutungen bei Älteren, insbesondere bei jenen mit eingeschränkter Nierenfunktion.
Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva sind wirksam, sollten aber bei Älteren nur selten eingesetzt werden. SSRI und kombinierte Wiederaufnahmehemmer, wie Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), sind ebenso wirksam wie trizyklische Antidepressiva und verursachen weniger Toxizität; jedoch gibt es bzgl. einiger dieser Medikamente Bedenken:
-
Paroxetin: Dieser Wirkstoff ist stärker sedierend als andere SSRI, hat anticholinerge Wirkungen und kann, wie einige andere SSRI, die hepatische Cytochrom-P-450-2D6-Enzymaktivität hemmen, was möglicherweise den Metabolismus zahlreicher Arzneimittel, inkl. Tamoxifen, einiger Antipsychotika, Antiarrhythmika und trizyklischer Antidepressiva, stört.
-
Citalopram: Dosen bei Älteren sollten aufgrund der möglichen QT-Verlängerung auf maximal 20 mg/Tag begrenzt werden.
-
Venlafaxin: Dieses Arzneimittel kann den Blutdruck erhöhen.
-
Mirtazapin: Dieses Arzneimittel kann sedierend sein und den Appetit/Gewichtszunahme stimulieren.
Antidiabetika
Bei Patienten mit Diabetes mellitus sollten die Antidiabetikadosen vorsichtig titriert werden. Das Risiko einer Hypoglykämie durch Sulfonylharnstoff kann mit dem Alter ansteigen. Wie unter beschrieben siehe Tabelle: Potenziell unangemessene Arzneimittel bei Älteren (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update), wird Chlorpropamid nicht bei Älteren aufgrund des erhöhten Risikos für Hypoglykämie und für Hyponatriämie aufgrund des Syndroms der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) empfohlen. Das Hypoglykämierisiko ist ebenso größer mit Glibenclamid als mit anderen oralen Antidiabetika, da die renale Clearance bei Älteren verringert ist.
Metformin, ein Biguanid, das über die Nieren ausgeschieden wird, erhöht die Sensitivität peripherer Gewebe gegenüber Insulin und kann allein oder zusammen mit Sulfonylharnstoff wirksam sein. Das Risiko einer Laktatazidose, einer seltenen, aber schwerwiegenden Komplikation, steigt mit dem Ausmaß einer Nierenschädigung und mit dem Patientenalter. Herzinsuffizienz ist eine Kontraindikation.
Antihypertensiva
Bei vielen älteren Patienten können geringere Initialdosen der Antihypertensiva notwendig sein, um das Risiko unerwünschter Wirkungen zu reduzieren; allerdings sind bei den meisten älteren Patienten mit Hypertonie zum Erreichen des Zielblutdrucks Standarddosen und eine Multi-Pharmakotherapie notwendig. Die initiale Behandlung der Hypertonie bei Älteren umfasst, abhängig von Begleiterkrankungen, in der Regel ein Diuretikum vom Thiazidtyp, ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Rezeptorenblocker oder ein Kalziumantagonist vom Dihydropyridintyp. β-Blocker sollten für die Zweitlinientherapie reserviert bleiben. Kurz wirksame Dihydropyridine (z. B. Nifedipin) können das Mortalitätsrisiko erhöhen und sollten nicht verwendet werden. Der Blutdruck im Sitzen und im Stehen kann, v. a. beim EInsatz von mehreren Antihypertensiva, zur Überpüfung einer orthostatischen Hypotonie, die das Risiko für Stürze und Knochenbrüche erhöhen kann, überwacht werden.
Antiparkinson-Medikamente
Die Levodopa-Clearance ist bei älteren Patienten vermindert, die außerdem anfälliger für die unerwünschten Arzneimittelwirkungen, insbesondere orthostatische Hypotonie und Verwirrtheit, sind. Daher sollten ältere Patienten eine geringere Initialdosis von Levodopa erhalten und sorgfältig hinsichtlich unerwünschter Wirkungen überwacht werden ( M. Parkinson : Levodopa). Patienten, die unter der Einnahme von Levodopa verwirrt werden, können möglicherweise Dopaminagonisten (z. B. Pramipexol, Ropinirol) ebenfalls nicht vertragen. Da ältere Patienten mit Parkinsonismus kognitiv beeinträchtigt sein können, sollten Arzneimittel mit anticholinergen Wirkungen vermieden werden.
Antipsychotika
Antipsychotika sollten der Therapie von Psychosen vorbehalten sein. Bei nichtpsychotischen, agitierten Patienten kontrollieren Antipsychotika die Symptome nur marginal besser als Plazebo, und sie können schwere unerwünschte Wirkungen entfalten. Studien haben gezeigt, dass bei Personen mit Demenz Antipsychotika die Mortalität und das Schlaganfallrisiko erhöhten, was die FDA veranlasste, eine Black-Box-Warnung auf die Verwendung bei solchen Patienten abzugeben. Antipsychotika wirken im Allgemeinen nicht bei Demenz-assoziierten Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Umherwandern, Schreien, unkooperatives Verhalten).
Wenn ein Antipsychotikum verwendet wird, sollte die Initaildosis ungefähr ein Viertel der üblichen Initialdosis für Erwachsene betragen und schrittweise erhöht werden mit regelmäßiger Überwachung der Therapieantwort und unerwünschter Wirkungen. Sobald der Patient reagiert, sollte die Dosis nach unten verringert werden, wenn möglich auf die niedrigste noch wirksame Dosis. Das Arzneimittel muss abgesetzt werden, wenn es unwirksam ist. Die Daten aus klinischen Studien, die sich auf Dosierung, Wirksamkeit und Sicherheit dieser Arzneimittel bei Älteren beziehen, sind begrenzt.
Antipsychotika können eine paranoide Störung reduzieren, eine Verwirrtheit dagegen verschlechtern ( Antipsychotika). Ältere Patienten, insbesondere Frauen, haben ein erhöhtes Risiko für Spätdysinesien, die häufig irreversibel sind. Bei bis zu 20% der älteren Patienten, die ein Antipsychotikum einnehmen, können Sedierung, orthostatische Hypotonie, anticholinerge Wirkung und Akathisie (subjektive motorische Ruhelosigkeit) auftreten, und ein arzneimittelinduzierter Parkinsoismus kann über 6–9 Monate nach Absetzen des Arzneimittels fortbestehen.
Bei Verwendung von Antipsychotika der 2. Generation (z. B. Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) kann es sogar, insbesondere in höheren Dosen, zu extrapyramidalen Störungen kommen. Risiken und Vorteile der Verwendung eines Antipsychotikums sollten mit dem Patienten oder der für die Patientenversorgung verantwortlichen Person diskutiert werden. Antipsychotika sollten für Verhaltensauffälligkeiten in Betracht gezogen werden, wenn nichtpharmakologische Optionen unwirksam sind und bei Patienten, die für sich und andere eine Bedrohung darstellen
Anxiolytika und Hypnotika
Vor der Anwendung von Hypnotika sollten behandelbare Ursachen von Schlaflosigkeit eruiert und entsprechend behandelt werden ( Untersuchung des Patienten mit Schlafstörungen oder Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus : Hypnotika). Nichtpharmaologische Maßnahmen, wie kognitive Verhaltenstherapie, und Schlafhygiene (z. B. Vermeidung von koffeinhaltigen Getränken, Einschränkung von Nickerchen am Tage, Modifikation der Schlafenszeit) sollten zunächst versucht werden. Sind sie unwirksam, sind Nichtbenzodiazepinhypnotika (z. B. Zolpidem, Eszopiclon, Zaleplon) Optionen für den kurzfristigen Einsatz. Diese Arzneimittel binden hauptsächlich an einen Benzodiazepinrezeptor-Subtyp und stören das Schlafmuster weniger als Benzodiazepine. Sie haben einen schnelleren Wirkungseintritt, weniger Rebound-Effekte, wenige Hangover-Effekte und ein geringes Abhängigkeitspotenzial. Wie in siehe Tabelle: Potenziell unangemessene Arzneimittel bei Älteren (nach American Geriatrics Society 2012 Beers Criteria Update) beschrieben sind kurz-, mittel- und langwirkende Benzodiazepine bei Älteren mit einem erhöhten Risiko für kognitive Beeinträchtigung, Delirium, Stürze, Knochenbrüche und Autounfälle assoziiert und sollten in der Behandlung von Schlaflosigkeit vermieden werden. Benzodiazepine können für die Behandlung von Angstzuständen oder Panikattacken bei älteren Menschen geeignet sein.
Wenn möglich, sollte die Dauer einer anxiolytischen oder hypnotischen Therapie begrenzt sein, da es zu Toleranz und Abhängigkeit kommen kann; Absetzen kann zu erneuter Angst oder Schlaflosigkeit führen.
Antihistaminika (z. B. Diphenhydramin, Hydroxyzin) sind als Anxiolytika und Hypnotika nicht zu empfehlen, da sie anticholinerge Wirkungen haben und sich eine Toleranz gegenüber den sedativen Wirkungen schnell entwickelt.
Buspiron, ein partieller Serotoninagonist, kann bei generalisierter Angststörung wirksam sein, ältere Patienten tolerieren Dosen von bis zu 30 mg/Tag gut. Das langsame Einsetzen der anxiolytischen Wirkung (bis zu 2–3 Wochen) kann in dringenden Fällen von Nachteil sein.
Digoxin
Digoxin, ein Herzglykosid, wird verwendet, um die Kontraktionnskraft des Myokards zu erhöhen und supraventrikuläre Arrhythmien zu behandeln. Es muss bei älteren Patienten allerdings mit Vorsicht eingesetzt werden. Bei Männern mit Herzinsuffizienz und einer Linksherzejektionsfraktion ≤ 45% sind Serumdigoxinspiegel > 0,8 ng/ml mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden. Unerwünschte Wirkungen stehen in der Regel im Zusammenhang mit der engen therapeutischen Breite. Eine Studie hat ergeben, dass Digoxin bei Frauen vorteilhaft ist bei Serumspiegeln zwischen 0,5 und 0,9 ng/ml, aber möglicherweise schädlich bei Werten ≥ 1,2 ng/ml. Eine Reihe von Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Digoxintoxizität bei älteren Patienten. Nierenfunktionsstörungen, vorübergehende Dehydrierung und die Gebrauch von NSAR (alles bei älteren Menschen häufig) kann die renale Clearance von Digoxin reduzieren. Ferner nimmt die Digoxin-Clearance bei älteren Patienten mit normalen Serum-Kreatininspiegeln durchschnittlich um 50% ab. Auch wenn der Anteil der fettfreien Körpermasse beim Altern reduziert ist, wird das Verteilungsvolumen für Digoxin reduziert. Daher sollten die Initialdosen niedrig sein (0,125 mg/Tag) und gemäß Wirkung und Serumdigoxinspiegel (normaler Bereich zwischen 0,8 und 2,0 ng/ml) angepasst werden. Allerdings korreliert der Digoxin-Serumspiegel nicht immer mit der Wahrscheinlichkeit der Toxizität.
Diuretika
Geringere Dosen von Thiaziddiuretika (z. B. Hydrochlorothiazid oder Chlortalidon 12,5–25 mg) können bei älteren Patienten den Blutdruck wirkungsvoll kontrollieren und haben ein geringeres Hypokalämie- und Hyperglykämierisiko als andere Diuretika ( Medikamente gegen Hypertonie : Diuretika). Daher ist eine Kaliumsupplementierung seltener erforderlich.
Kaliumsparende Diuretika sollten bei Älteren mit Vorsicht angewendet werden. Der Kaliumspiegel muss sorgfältig überwacht werden, insbesondere wenn Diuretika zusammen mit ACE-Hemmern oder Angiotensin-II-Rezeptorenblockern oder Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion gegeben werden.