Perinatale Polyzythämie und Hyperviskositätssyndrom

VonAndrew W. Walter, MS, MD, Sidney Kimmel Medical College at Thomas Jefferson University
Überprüft/überarbeitet Dez. 2022
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Polyzythämie bezeichnet den pathologischen Anstieg der Erythrozytenmenge, bei Neugeborenen definiert als Hämatokrit 65%; dieser Anstieg kann zur Hyperviskosität durch Aggregation von Blut bzw. Erythrozyten in den Gefäßen und manchmal zur Thrombose führen. Die wichtigsten Symptome und Anzeichen der Neugeborenen-Polyzythämie sind unspezifisch und umfassen rötliche Gesichtshaut, Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme, Lethargie, Hypoglykämie, Hyperbilirubinämie, Zyanose, Atemnot und Krampfanfälle. Die Diagnose wird klinisch nach einer arteriellen oder venösen Hämatokrit-Messung gestellt. Als Behandlung kommt die partielle Austauschtransfusion infrage.

(Prä- und perinatale Veränderungen der Erythropoese werden in Perinatale Physiologie behandelt.)

Die Begriffe Polyzythämie und Hyperviskositätssyndrom werden oft synonym verwendet, bedeuten aber nicht dasselbe. Die Polyzythämie ist nur deshalb relevant, weil sie das Risiko für ein Hyperviskositätssyndrom erhöht. Hyperviskosität ist ein klinisches Syndrom, das durch die Aggregation der Erythrozyten in den Blutgefäßen verursacht wird. Es kommt deshalb zur Aggregation, weil die größere Masse an Erythrozyten zu einem relativen Abfall des Plasmavolumens und einem relativen Anstieg von Proteinen und Thrombozyten führt.

Die Inzidenz von Polyzythämie liegt bei etwa 3–4% (in einem Bereich von 0,4–12%); etwa die Hälfte der Säuglinge mit Polyzythämie haben das Hyperviskositätssyndrom.

Ätiologie

Die Dehydratation kann durch die relative Hämokonzentration und einen Anstieg des Hkt einer Polyzythämie ähneln, allerdings ist die Menge der Erythrozyten nicht erhöht.

Ursachen der echten Polyzythämie sind u. a. intrauterine Hypoxie, perinatale Asphyxie, plazentare Transfusion (auch Transfusion bei Zwillingen), manche kongenitale Störungen (z. B. zyanotischer kongenitaler Herzfehler, renovaskuläre Fehlbildungen, kongenitale Nebennierenrindenhyperplasie), bestimmte Entbindungsmodi (z. B. verzögertes Abklemmen der Nabelschnur, Halten des Kindes unterhalb des Niveaus der Mutter vor Abklemmen der Nabelschnur, Ausstreichen der Nabelschnur zum Kind bei der Geburt), mütterlicher Insulin-pflichtiger Diabetes mellitus, Down-Syndrom oder andere Trisomien, Beckwith-Wiedemann-Syndrom und intrauterine Wachstumsretardierung. Polyzythämie ist auch häufiger, wenn die Mutter in großer Höhe lebt.

Frühgeborene entwickeln nur selten ein Hyperviskositätssyndrom.

Symptome und Beschwerden

Symptome und Befunde des Hyperviskositätssyndroms entsprechen denen der Herzinsuffizienz, der Thrombose (zerebraler und renaler Gefäße) und der Dysfunktion des Zentralnervensystems einschließlich Tachykardie, Atemnot, Zyanose, Plethora, Apnoe, Lethargie, Irritabilität, Hypotonie, Zittern, Krampfanfälle und Probleme bei der Nahrungsaufnahme. Eine Nierenvenenthrombose kann zu renalen Tubulusschäden, Proteinurie oder beidem führen.

Diagnose

  • Hämatokrit

  • Klinische Bewertung

Die Diagnose der Polyzythämie wird anhand des arteriellen oder venösen (nicht kapillaren) Hämatokrits gestellt, da Kapillarproben den Hämatokrit häufig überschätzen. Die meisten publizierten Studien zur Polyzysthemie basieren auf zentrifugierten Hämatokrit-Werten, die in aller Regel nicht mehr routinemäßig gemacht werden und im Allgemeinen höher sind als automatisch bestimmten Werte.

Eine Diagnose des Hyperviskositätssyndroms erfolgt klinisch. Die Bestimmung der Viskosität wird in den meisten Laboren nicht routinemäßig durchgeführt.

Zu den zusätzlich auffälligen Laborwerten zählen niedrige Blutzucker- und Kalziumionen-Spiegel, eine Lyse der Erythrozyten; eine Thrombozytopenie (durch Verbrauch bei Thrombosen); eine Hyperbilirubinämie (durch vermehrten Umsatz bei erhöhter Erythrozytenzahl) und eine Retikulozytose sowie eine vermehrte Zahl kernhaltiger peripherer Erythrozyten (durch eine vermehrte Erythropoese aufgrund einer fetalen Hypoxie).

Therapie

  • IV-Hydratation

  • Manchmal Phlebotomie mit zusätzlichem Kochsalzlösungsersatz (partielle Austauschtransfusion)

Asymptomatische Säuglinge sollten mit intravenöser Flüssigkeitsgabe versorgt werden (siehe Behandlung der Dehydrierung bei Kindern).

Symptomatische Säuglinge mit einem Hämatokrit-Wert > 65–70% sollten einer isovolämischen Blutverdünnung unterzogen werden (manchmal auch partielle Austauschtransfusion genannt, obwohl keine Blutprodukte gegeben werden), um den Hämatokrit-Wert auf 55% zu verringern und damit die Viskosität des Blutes zu reduzieren. Ein partieller Austausch erfolgt durch eine Blutabnahme in Portionen von 5 ml/kg und den sofortigen Ersatz durch das gleiche Volumen einer 0,9%igen Kochsalzlösung. Asymptomatische Säuglinge, deren Hämatokrit-Wert trotz Hydratation anhaltend > 70% bleibt, profitieren möglicherweise ebenfalls von dieser Maßnahme.

Obgleich viele Studien zeigen, dass ein partieller Austausch einen messbaren Soforteffekt hat, ist der langfristige Nutzen weiter fraglich. In den meisten Studien wird kein Nachweis über Unterschiede im langfristigen Wachstum oder der neurologischen Entwicklung von Kindern mit und ohne erfolgte partielle Austauschtransfusion in der Neugeborenenperiode erbracht.

Wichtige Punkte

  • Eine Polyzythämie besteht bei Neugeborenen mit einem venösen Hämatokrit-Wert 65%.

  • Hyperviskosität ist ein klinisches Syndrom mit Aggregation von Blut in den Gefäßen und ggf.Thrombose.

  • Erscheinungsformen sind vielfältig und können schwerwiegend sein (Herzinsuffizienz, Thrombose [zerebrale und renale Gefäße], Dysfunktion des Zentralnervensystems) oder leicht (Zittern, Lethargie oder Hyperbilirubinämie).

  • Behandlung mit IV-Hydratation und ggf. mit partieller Transfusion.