Verhaltensstörungen bei Kindern im Überblick

VonStephen Brian Sulkes, MD, Golisano Children’s Hospital at Strong, University of Rochester School of Medicine and Dentistry
Überprüft/überarbeitet Apr. 2023
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Viele Verhaltensweisen, die Kinder und Jugendliche zeigen, beunruhigen Eltern oder andere Erwachsene. Verhaltensweisen oder Verhaltensmuster werden klinisch bedeutsam, wenn sie häufig oder anhaltend auftreten und maladaptiv sind, d. h. wenn sie beispielsweise die emotionale Reifung oder die sozialen und kognitiven Funktionen beeinträchtigen. Schwere Verhaltensstörungen können als psychische Störungen klassifiziert werden (z. B. die oppositionelle Störung und die Verhaltensstörung).

Die Prävalenz variiert je nachdem, wie das Verhaltensproblem definiert und beurteilt wird.

(Siehe auch Probleme bei Jugendlichen.)

Bewertung von Verhaltensstörungen bei Kindern

Die Diagnose von Verhaltensproblemen bei Kindern besteht aus einer mehrstufigen Verhaltensanalyse.

Bei Säuglingen und Kindern betreffen die meisten Bedenken die Körperfunktionen (z. B. Essen, Ausscheidung, Schlaf), während bei älteren Kindern und Jugendlichen mehr die zwischenmenschlichen Umgangsweisen von Bedeutung sind (Aktivitäten, Ungehorsam, Aggression).

Identifikation des Problems

Ein Verhaltensproblem kann sich alarmierend und abrupt als einzelner Vorfall manifestieren (z. B. Feuerlegen, Prügelei in der Schule). Öfters zeigen sich die Probleme aber allmählich, und für die Identifizierung müssen über längere Zeit Informationen zusammengetragen werden. Das Verhalten lässt sich am besten beurteilen nach

  • der körperlichen und geistigen Entwicklung

  • der allgemeinen Gesundheit

  • dem Temperament (z. B. schwierig, ruhig)

  • den Beziehungen zu Eltern und Betreuern

Eine direkte Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion in der Praxis kann wertvolle Hinweise liefern, u. a. auch über die elterliche Reaktion auf die Verhaltensweisen des Kindes. Diese Beobachtungen sollten, wenn möglich, durch Informationen anderer Personen, darunter Lehrer und Schulkrankenschwestern, ergänzt werden.

Eltern oder Betreuungspersonen sollten aufgefordert werden, einen chronologischen Tagesablauf der Aktivitäten des Kindes an einem typischen Tag darzustellen. Die Eltern werden gefragt, wann das Verhalten begonnen hat, und werden gebeten, Beispiele für Ereignisse zu nennen, die dem spezifischen Verhalten vorausgingen und folgten. Die Eltern sollten auch nach ihrer Einschätzung der folgenden Faktoren gefragt werden:

  • Typische altersbedingte Verhaltensweisen

  • Erwartungen an das Kind

  • Ihr eigener Erziehungsstil

  • Art der Unterstützung (z. B. soziale, emotionale, finanzielle) für die Erfüllung ihrer Elternrolle

  • Die Beziehung des Kindes mit dem Rest der Familie

Interpretation des Problems

Die Anamnese des Kindes kann Faktoren beinhalten, bei denen man davon ausgeht, dass sie die Entwicklung von Verhaltensproblemen fördern, z. B. Drogenexposition, Schwangerschaftskomplikationen oder eine schwere Krankheit oder ein Verlust in der Familie.

Einige Probleme betreffen die Eltern-Kind-Beziehung und können auf verschiedene Weise interpretiert werden:

  • Unrealistische Erwartungen der Eltern: Z. B. wenn Eltern erwarten, dass ein 2-jähriges Kind ohne Hilfe Spielzeug aufräumen kann. Eltern interpretieren normales altersgerechtes Verhalten als problematisch, wie etwa oppositionelles Verhalten (z. B. so wie die Weigerung eines 2-Jährigen, einer Aufforderung oder Anordnung eines Erwachsenen Folge zu leisten).

  • Schlechte Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen: Z. B. können Kinder von weniger aufmerksamen Eltern Verhaltensprobleme haben.

  • Übermäßig nachsichtige Erziehung: Wohlmeinende elterliche Reaktionen auf ein Verhaltensproblem können dieses verschlimmern, indem sie es unbeabsichtigt belohnen (z. B. übermäßiger Schutz eines ängstlichen, anhänglichen Kindes; Nachgeben gegenüber einem manipulativen Kind).

  • Teufelskreis: Bei jüngeren Kindern stellen sich einige Probleme als Mechanismen eines Circulus vitiosus dar. Eine negative elterliche Reaktion auf ein kindliches Verhalten verursacht eine feindliche Reaktion des Kindes, und diese wiederum führt zu einer andauernden negativen elterlichen Reaktion. In diesem Teufelskreis reagieren Kinder oft auf Stress und emotionales Unbehagen eher mit Verstocktheit, Widerrede, aggressiv und mit Wutausbrüchen, als mit Weinen. Die Eltern reagieren oft in einem solchen Teufelskreis auf ein aggressives und resistentes Kind mit Schimpfen, Schreien und Schlagen, das Kind verstärkt dann das Verhalten, das zu der ersten Reaktion der Eltern geführt hat, die wiederum wesentlich heftiger reagieren. Die Aufmerksamkeit, die Kinder von ihren Eltern für ihr unangemessenes Verhalten erhalten, verstärkt dieses oft noch.

Bei älteren Kindern und Jugendlichen können Verhaltensprobleme auftreten, wenn die Unabhängigkeit von den elterlichen Regeln und elterlicher Kontrolle angestrebt wird (siehe Verhaltensprobleme bei Jugendlichen). Derlei Probleme müssen von gelegentlichen Irrtümern in der Verhaltensbeurteilung unterschieden werden.

Behandlung von Verhaltensstörungen bei Kindern

  • Frühe Intervention

  • Bildung und Strategien für Eltern

Ist das Verhaltensproblem identifiziert und die Ätiologie bekannt, sollte eine frühe Intervention angestrebt werden, da länger andauernde Verhaltensweisen schwieriger zu ändern sind.

Der Arzt versichert den Eltern, dass das Kind körperlich normal entwickelt ist (z. B. dass das Fehlverhalten des Kindes nicht die Manifestation einer körperlichen Krankheit darstellt). Wenn sich der Arzt mit der elterlichen Frustration identifiziert und die vorherrschenden Verhaltensprobleme deutlich darstellt, kann er damit oftmals das elterliche Schuldgefühl lindern und die Suche nach den möglichen Ursachen wie auch die Behandlung der Probleme erleichtern. Bei einfachen Problemen sind eine Unterweisung der Eltern, Beruhigung und einige spezielle Ratschläge oft ausreichend. Eltern sollten daran erinnert werden, wie wichtig es ist, sich mindestens 15–20 min am Tag mit ihrem Kind auf angenehme Art zu beschäftigen, wobei die Aufmerksamkeit auf einer Verstärkung der erwünschten Verhaltensweisen des Kindes liegen sollte, nach dem Motto: „Widme dich dem Kind auch dann, wenn es sich gut benimmt“. Die Eltern können auch ermutigt werden, regelmäßig Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, damit es lernt, sicher und unabhängig zu sein.

Bei einigen Verhaltensstörungen jedoch können die Eltern von zusätzlichen disziplinierenden und verhaltensmodifizierenden Strategien profitieren.

  • Eltern sollten Auslöser für das Verhalten und die Faktoren des Kindes (z. B. zusätzliche Aufmerksamkeit) identifizieren, die es unbeabsichtigt verstärken könnten.

  • Gewünschtes und nicht erwünschtes Verhalten sollte klar definiert werden.

  • Eltern sollten sich auf das Verhalten selbst konzentrieren und es nicht mit dem Kind gleichsetzen (z. B. "das war ein inakzeptables Verhalten" im Gegensatz zu "du bist ein schlechter Mensch").

  • Konsequente Regeln und Grenzen sollten festgelegt werden.

  • Die Eltern müssen die Einhaltung der Regeln fortlaufend überwachen und Erfolg angemessen belohnen sowie Konsequenzen für unangemessenes oder unerwünschtes Verhalten vorsehen.

  • Eltern sollten ihren Ärger so gering wie möglich halten, wenn sie Regeln durchsetzen und sie sollten den positiven Kontakt mit ihrem Kind maximieren

Tipps und Risiken

  • Positive Bestätigung für ein angemessenes Verhalten ist ein wirksames Mittel ohne Nachteile.

Eltern dabei zu helfen zu verstehen, dass "Disziplin" Struktur und nicht Strafe bedeutet, ermöglicht es ihnen, die Rahmenbedingungen zu schaffen und die Erwartungen zu haben, die ihre Kinder brauchen. Unwirksame Disziplinierungen können in Fehlverhalten münden. Schimpfen und körperliche Bestrafung können das Verhalten eines Kindes kurzfristig kontrollieren, aber auch Sicherheit und Selbstachtung eines Kindes vermindern. Drohungen, das Kind zu verlassen oder es wegzuschicken, schaden nur. Schelte, Drohungen und körperliche Bestrafung lehren dem Kind auch, dass diese Verweise angemessene Reaktionen auf Situationen sind, die das Kind nicht mag.

Die Time-Out-Technik, bei dem das Kind für eine kurze Zeit alleine an einem langweiligen Ort sitzt (eine Ecke oder ein Raum, der nicht das Kinderzimmer ist, ein Raum ohne Fernseher oder Spielzeug, der nicht dunkel oder Furcht erregend ist), ist eine gute Methode, um Fehlverhalten zu ändern. Time-Outs sind Lernprozesse für das Kind und werden am besten ein oder mehrere Male für ein Fehlverhalten benützt. Körperliche Fixierung sollte vermieden werden. Bei Kindern, deren Reaktionen eskalieren, sobald ihnen ein Time-Out gesetzt wird, können Eltern schnell die Strategie ändern, wenn sie erkannt haben, dass ihre Kinder die Grenze für ihr unerwünschtes Verhalten erkannt haben.

Time-Out-Technik

Dieses Disziplinarverfahren eignet sich am besten, wenn die Kinder wissen, dass ihre Handlungen unangebracht oder inakzeptabel waren und wenn sie einen Entzug von Aufmerksamkeit als Strafe sehen. Typischerweise ist das erst ab einem Alter von 2 Jahren der Fall. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass diese Technik in der Gruppe, wie z. B. in Kindertagesstätten, zu einer schädlichen Demütigung führen kann.

Das Verfahren kann angewendet werden, wenn ein Kind sich in einer Weise benimmt, die üblicherweise zu einem Time-out führt. Normalerweise sollten verbale Ermahnungen und Erinnerungen dem Time-Out vorausgehen.

  • Das Fehlverhalten wird dem Kind zunächst erklärt. Anschließend wird ihm gesagt, dass es sich auf den Time-Out-Stuhl setzen soll oder dorthin geführt wird.

  • Das Kind sollte über eine angemessene Dauer auf dem Stuhl sitzen: 1 min für jedes Lebensalter, aber maximal 5 Minuten.

  • Ein Kind, das aufsteht bevor die vorgegebene Zeit abgelaufen ist, wird auf den Stuhl zurück geführt, und das Time-Out wird neu gestartet. Sprechen und Augenkontakt sollten vermieden werden.

  • Wenn die Zeit zum Aufstehen für das Kind da ist, fragt der Erzieher nach dem Grund für den Time-Out, und zwar ohne Zorn und Gezeter. Ein Kind, das den richtigen Grund nicht weiß, wird kurz daran erinnert. Das Kind braucht keine Reue für das Fehlverhalten zu zeigen, wenn es offensichtlich ist, dass das Kind den Grund für das Time-Out verstanden hat.

Nach dem Time-Out sollte der Betreuer das angemessene Verhalten des Kindes so bald wie möglich loben, was möglicherweise einfacher zu erreichen ist, wenn das Kind zu einer neuen Aktivität weit weg von der Szene des unangemessenen Verhaltens umgeleitet wird.

Der Teufelskreis kann unterbrochen werden, wenn die Eltern ein Verhalten, das andere nicht stört, ignorieren (z. B. die Weigerung, zu essen) und Ablenkungsmanöver benutzen oder eine zeitweilige Isolation, um Verhalten, das nicht ignoriert werden kann, zu begrenzen (z. B. öffentliche Wutanfälle).

Ein Verhaltensproblem, das sich innerhalb von 3–4 Monaten nicht ändert, sollte neu bewertet werden; ein intensiveres Verhaltensmanagement-Coaching oder eine psychosoziale Beratung kann angezeigt sein.