Allgemeine Grundlagen zu Vergiftungen

VonGerald F. O’Malley, DO, Grand Strand Regional Medical Center;
Rika O’Malley, MD, Grand Strand Medical Center
Überprüft/überarbeitet Juni 2022
Aussicht hier klicken.

Vergiftung wird als Kontakt mit einer Substanz definiert, die zu einer schädlichen Wirkung führt. Die Symptome können variieren, aber einige bestimmte Syndrome lassen sich bestimmten Giftklassen zuordnen. Die Diagnose ist primär klinisch zu stellen, bei manchen Vergiftungen können jedoch Blut- und Urintests bei der Diagnosefindung hilfreich sein. Die meisten Vergiftungen erfordern nur eine supportive Behandlung; spezifische Antidote sind nur für einige wenige Vergiftungen erforderlich. Die Prävention von Vergiftungen schließt die eindeutige Beschriftung von Medikamenten (verpackungen) sowie die Aufbewahrung von Giften außerhalb der Reichweite von Kindern mit ein.

Die meisten Vergiftungen sind dosisabhängig. Die Dosis hängt von der Konzentration über die Zeit ab. Toxizität kann auch bei großen Mengen an nichtgiftigen Substanzen zeigen. Manche Vergiftungen jedoch werden von Substanzen ausgelöst, die über den gesamten Dosisbereich giftig sind. Vergiftungen müssen von Überempfindlichkeits- und idiosynkratischen Reaktionen unterschieden werden, die unvorhersehbar und dosisunabhängig sind, sowie von Unverträglichkeiten, die im Allgemeinen eine toxische Reaktion auf üblicherweise nichttoxische Dosen einer Substanz sind.

Vergiftungen entstehen meist durch orale Aufnahme, können jedoch auch durch Injektion, Inhalation oder Kontakt mit der Körperoberfläche (z. B. Haut, Auge, Schleimhäute) hervorgerufen werden. Viele häufig verschluckte Substanzen, die keine Lebensmittel sind, sind im Allgemeinen ungiftig (siehe folgende Tabelle); fast jeder Stoff kann jedoch giftig sein, wenn er in übermäßigen Mengen aufgenommen wird.

Tabelle

Unbeabsichtigte Vergiftungen treten häufig bei kleinen Kindern auf, die neugierig sind und Substanzen trotz ihres unangenehmen Geschmacks oder Geruchs zu sich nehmen. Vergiftungen kommen aber auch bei älteren Kindern, jungen Erwachsenen und Erwachsenen im Rahmen von Suizidversuchen häufig vor; verschiedene Substanzen, darunter Alkohol, Paracetamol und andere frei verkäufliche Medikamente, können dabei eine Rolle spielen. Versehentliche Vergiftungen können bei älteren Menschen aufgrund von Verwirrung, Sehschwäche, geistiger Beeinträchtigung oder mehrfacher Verschreibung desselben Medikaments durch verschiedene Ärzte auftreten (siehe auch Drogenbedingte Probleme bei älteren Menschen).

Gelegentlich werden Gifte auch mit Mordabsicht eingesetzt oder um bestimmte Personen handlungsunfähig zu machen (z. B. bei Vergewaltigung oder Raubüberfall). Für solche Zwecke eingesetzte Substanzen (z. B. Scopolamin, Benzodiazepin, Gammahydroxybuttersäure) sedieren üblicherweise, können zur Amnesie führen oder machen beides. In seltenen Fällen vergiften Eltern mit medizinischem Hintergrundwissen ihre Kinder entweder aus unklaren psychiatrischen Gründen, oder sie fügen ihren Kindern Schaden zu, um auf diese Weise ärztliche Beachtung zu erlangen (eine Störung, die als "eine anderen zugefügte artifizielle Störung" bezeichnet wird).

Nach der Exposition oder Einnahme und Absorption werden die meisten Gifte verstoffwechselt, durch den Gastrointestinaltrakt geleitet oder ausgeschieden. Gelegentlich kommt es nach der Einnahme von Tabletten (wie Acetylsalicylsäure, Eisen, säuregeschützte Präparate) zur Ausbildung größerer Konkremente (Bezoare) im Magen-Darm-Trakt, die in aller Regel längere Zeit verweilen. Das führt zu einer verzögerten kontinuierlich Absorption und somit zu einer verzögerten aber anhaltenden Vergiftungssymtomatik.

Symptome und Anzeichen einer Vergiftung

Die Symptome und Anzeichen einer Vergiftung sind je nach Substanz unterschiedlich (siehe Tabelle Symptome und Behandlung von spezifischen Giften). Auch Patienten, die mit ein und derselben Substanz vergiftet sind, können ausgesprochen unterschiedliche Symptome entwickeln. Dennoch treten für gewöhnlich sechs Symptomarten (toxische Syndrome oder Toxidrome) auf, die für spezifische Substanzklassen charakteristisch sein können (siehe Tabelle Häufige toxische Syndrome). Werden vom Patienten mehrere Substanzen aufgenommen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die für eine Einzelsubstanz charakteristischen Symptome auftreten.

Tabelle

Üblicherweise beginnt die Symptomatik bald nach der Exposition, bei bestimmten Giften kann sie jedoch auch verzögert auftreten. Die Verzögerung kann dadurch bedingt sein, dass nur der Metabolit die eigentliche Giftwirkung auslöst (z. B. Methanol, Ethylenglykol oder verschiedene Lebergifte). Die Einnahme von Lebergiftten (z. B. Paracetamol, Eisen, Knollenblätterpilze) kann zum akuten Leberversagen führen, das erst mit einer Latenz von einem oder mehreren Tagen auftritt. Bei Metallen oder Lösungsmitteln aus der Klasse der Kohlenwasserstoffe treten Symptome typischerweise nur nach chronischer Exposition auf.

Oral aufgenommene und absorbierte Gifte führen üblicherweise zu systemische Vergiftungszeichen. Ätzende oder korrodierende Flüssigkeiten schädigen hauptsächlich die Schleimhäute des Magen-Darm-Trakts und verursachen Stomatitis, Enteritis oder führen zu einer Perforation. Manche Gifte wie Alkohol und Kohlenwasserstoffe erzeugen einen charakteristischen Atemgeruch. Der Kontakt eines Giftes mit der Haut kann zu verschiedenen akuten Hautveränderungen wie Ausschläge, Schmerzen oder Blasenbildung führen; die chronische Exposition kann zu einer Dermatitis führen.

Inhalierte Gifte führen, sofern sie wasserlöslich sind (z. B. Chlor, Ammoniak), üblicherweise zu einer Schädigungen der oberen Atemwege. Wenig wasserlösliche Substanzen, wie z. B. Phosgen, schädigen die unteren Atemwege und führen zu nichtkardial bedingten Lungenödemen (toxische Lungenödeme). Das Einatmen von Kohlenmonoxid-, Cyanwasserstoff- oder Schwefelwasserstoff-Gas kann zu Ischämie von Organen führen oder einen Herz- oder Atemstillstand verursachen. Der Kontakt des Auges mit Giften (Feststoff, Flüssigkeit oder Dampf) kann Hornhaut, Skleren und Linse schädigen und Schmerzen am Auge, Rötung und im schlimmsten Fall den Verlust der Sehkraft hervorrufen.

Manche Substanzen wie Kokain, Phencyclidin und Amphetamin können eine schwere Agitiertheit auslösen, die womöglich zu Hyperthermie, Azidose und Rhabdomyolyse führt.

Diagnose von Vergiftungen

  • Eine Vergiftung sollte bei Patienten mit Veränderungen des Bewusstseins oder bei unerklärlichen Symptomen in Erwägung gezogen werden.

  • Informationen aus allen verfügbaren Quellen

  • Selektives, direktes Testen

Der erste Schritt zur Diagnose einer Vergiftung ist die Erhebung eines Ganzkörperstatus des Patienten. Schwere Vergiftungen erfordern eine sofortige Intervention, um den drohenden/manifesten Herz-Kreislauf- oder Atemstillstand zu behandeln.

Gifte können bereits bei Aufnahme bekannt sein, sie sollten zumindest dann in Erwägung gezogen werden, wenn Patienten unerklärliche Symptome zeigen, insb. bei veränderten Bewusstseinslagen, Erregungszuständen, Schläfrigkeit bis hin zu komatösen Zuständen. Bei suizidal motivierten Vergiftungen sollte bei Erwachsenen von der Einnahme mehrerer verschiedener Substanzen ausgegangen werden.

Die Anamnese ist häufig wegweisend. Wenn viele Patienten (z. B. Kleinkinder, suizidale oder psychotische Erwachsene, Patienten mit veränderter Bewusstseinslage) keine zuverlässigen Informationen geben können, sollten Freunde, Bekannte und Rettungspersonal befragt werden. Sogar auf den ersten Blick zuverlässig erscheinende Patienten können unwahre Angaben über die Menge oder den Zeitpunkt der Einnahme machen. Sofern möglich, sollten weitere Hinweise aus der direkten Wohnumgebung des Patienten einbezogen werden (z. B. zum Teil geleerte Medikamentenschachteln, Hinweise auf gewohnheitsmäßigen Medikamentengebrauch, ein Abschiedsbrief). Apotheken und die Patientenakte (Verschreibungen, Arztbriefe etc.) können zusätzlich nützliche Information geben. Bei potenziellen Vergiftungen am Arbeitsplatz sollten Mitarbeiter und Vorgesetzte befragt werden. Für alle industriell verwendeten Chemikalien muss am Arbeitsplatz ein Sicherheitsdatenblatt vorliegen, das detaillierte Informationen über die Toxizität und gegebenenfalls spezifische Behandlung enthält.

In vielen Ländern der Welt können Informationen über Haushalts- und Industriechemikalien über Giftinformationszentralen erhoben werden. Die Kontaktaufnahme mit solchen Einrichtungen wird empfohlen, da die genaue Zusammensetzung der Substanzen, Erste-Hilfe-Maßnahmen und Gegenmittel, die auf den Packungen angegeben sind, gelegentlich falsch oder veraltet sind. Auch kann der betreffende Behältnis ersetzt worden sein oder aber die beigefügte Substanz gwhört nicht zum Behältnis. Giftinformationszentralen können dabei behilflich sein, unbekannte Tabletten anhand ihres Erscheinungsbildes zu identifizieren, und sie haben direkten Zugang zu Toxikologen. Die Telefonnummer des nächstgelegenen Zentrums ist oft zusammen mit anderen Notrufnummern im vorderen Teil des örtlichen Telefonbuchs aufgeführt; die Nummer ist auch bei der Telefongesellschaft oder in den Vereinigten Staaten unter der Nummer 1-800-222-1222 erhältlich. Weitere Informationen sind unter der web site des American Association of Poison Control Centers verfügbar.

Die körperliche Untersuchung kann in manchen Fällen direkte Hinweise auf die verwendete Substanz geben (z. B. durch das Vorhandensein sog. Toxidrome [siehe Tabelle Häufige toxische Syndrome], den Geruch der Atemluft, Vorhandensein von tropischen Drogen, Injektionsstellen oder Spuren, die einen IV Drogenmissbrauch vermuten lassen, Zeichen des chronischen Alkoholabusus usw.).

Selbst wenn bei einem Patienten eine Intoxikation gesichert ist, kann ein verändertes Bewusstsein auch andere Ursachen haben (z. B. Infektion des Zentralnervensystems, Schädel-Hirn-Trauma, Hypoglykämie, Schlaganfall, hepatische Enzephalopathie, Wernicke-Enzephalopathie), die ebenso berücksichtigt werden müssen. Ein Suizidversuch sollte vor allem bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Betracht gezogen werden, die ein Arzneimittel eingenommen haben (siehe Suizidales Verhalten und Suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen). Außerdem teilen Kinder häufig gefundene Pillen und Substanzen. Eine sorgfältige Untersuchung, um weitere potentiell vergiftete Patienten unter Spielkameraden und Geschwistern zu identifizieren, sollte unternommen werden.

Tests

In den meisten Fällen ist die alleinige Laboranalytik nur begrenzt hilfreich. Schnell verfügbare Standardtests, die die häufigsten Medikamente oder Missbrauchssubstanzen identifizieren (häufig Drogenscreening genannt), sind nur qualitativ aber nicht quantitativ. Diese Tests können falsch-negative oder falsch-positive Ergebnisse liefern und nur eine beschränkte Anzahl von Substanzen nachweisen. Auch das Vorhandensein einer missbräuchlich verwendeten Substanz ist nicht unbedingt ein Hinweis darauf, dass die Substanz die Symptome oder Anzeichen des Patienten verursacht hat (d. h. ein Patient, der kürzlich ein Opioid eingenommen hat, kann tatsächlich aufgrund einer Enzephalitis und nicht aufgrund der Substanz ohnmächtig sein). Urintests auf Substanzen werden am häufigsten verwendet, haben aber nur einen begrenzten Wert, da sie nur Wirkstoffklassen oder Metaboliten identifizieren können jedoch keine bestimmten Medikamente. Zum Beispiel kann ein Opioid-Urin-Immunoassay Fentanyl oder Methadon nicht erkennen, reagiert aber auf sehr kleine Mengen von Morphin oder Codein-Analoga. Der Test wird verwendet, um Kokain zu identifizieren, kann aber nur einen Metaboliten erkennen, nicht das eigentliche Kokain.

Tipps und Risiken

  • Der Nachweis einer missbräuchlich verwendeten Substanz in einem Screening-Test bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Substanz die Symptome oder Anzeichen des Patienten verursacht hat (z. B. kann ein Patient, der kürzlich ein Opioid eingenommen hat, tatsächlich aufgrund einer Enzephalitis und nicht wegen der Substanz ohnmächtig sein).

Für die meisten Substanzen können Blutspiegel nicht ohne weiteres bestimmt werden oder helfen nicht bei der Entscheidung über die Art der Behandlung. Für einige wenige Substanzen wie z. B. Paracetamol, Acetylsalicylsäure, Kohlenmonoxid, Digoxin, Ethylenglykol, Eisen, Lithium, Methanol, Phenobarbital, Phenytoin und Theophyllin können quantitative Blutspiegel für die weitere Behandlung nützlich sein. Eine Vielzahl von Experten empfiehlt die Messung von Paracetamolspiegeln bei allen Patienten mit Mehrfachvergiftungen, da die Paracetamoleinnahme häufig und in der Frühphase oft asymptomatisch ist; Paracetamol kann jedoch eine verzögert einsetzende schwerwiegende Schädigung bewirken, die durch die Antidotgabe verhindert werden kann. Für manche Substanzen können andere Laborparameter die Weiterbehandlung steuern (z. B. Prothrombinzeit-Bestimmung für Warfarin- oder Phenprocoumonüberdosierung, für bestimmte Substanzen auch Methämoglobinspiegel).

Bei Patienten, die eine veränderte Bewusstseinslage oder Störungen der Vitalfunktionen aufweisen oder aber ganz bestimmte Substanzen eingenommen haben, sollten auch die laborchemischen Werte wie Serumelektrolyte, -harnstoff, Kreatinin, Serumosmolalität, Glukose, Gerinnung und arterielle Blutgaswerte bestimmt werden. Andere Tests (z. B. Methämoglobinspiegel, Kohlenmonoxidgehalt, Schädel-Computertomographie) können bei Verdacht auf bestimmte Gifte oder bei bestimmten klinischen Bedingungen angezeigt sein.

Bei manchen Vergiftungen (z. B. durch Eisen, Blei, Arsen, andere Metalle oder Päckchen mit Kokain oder anderen illegalen Drogen, die von sog. Bodypackern ingestiert werden) kann eine Abdomenleeraufnahme Nachweis und Lokalisation der ingestierten Substanz anzeigen.

Bei Vergiftungen mit Arzneimitteln, die kardiovaskuläre Wirkungen haben, oder mit einer unbekannten Substanz sind ein Elektrokardiogramm (EKG) und eine Überwachung des Herzens angezeigt.

Falls die Blutwerte eines Giftes oder die Vergiftungssymptome nach initialem Abfall oder einer Verbesserung erneut ansteigen oder die Symptome für eine ungewöhnlich lange Zeit persistieren, sollte an Tabletten-Konglomerate, die Einnahme von Retardpräparaten oder an eine Reexposition gedacht werden (z. B. wiederholte heimliche Einnahme einer frei zugänglichen Substanz).

Behandlung von Vergiftungen

  • Unterstützende Behandlung

  • Aktivkohle bei schweren oralen Vergiftungen

  • Gelegentliche Verwendung von speziellen Antidoten oder Dialyse

  • Nur sehr selten: Magenentleerung

Bei schwer vergifteten Patienten kann eine Beatmung oder Behandlung eines Herz-Kreislauf-Stillstands erforderlich werden. Patienten mit eingeschränkter Bewussteinslage soll eine kontinuierliche Monitorüberwachung vorgesehen werden. Die Erörterung der Behandlung spezifischer Vergiftungen weiter unten und in den Tabellen Gängige spezifische Gegenmittel, Leitlinien für die Chelattherapie und Symptome und Behandlung von spezifischen Giften ist allgemein gehalten und befasst sich nicht mit spezifischen Problemen und Details. Generell wird für alle Vergiftungen, außer sie sind leicht und werden standardisiert behandelt, die Kontaktaufnahme mit einer Giftinformationszentrale empfohlen.

Initiale Stabilisierung

  • Aufrechterhaltung der Atemwege, Atmung und Kreislauf

  • IV Naloxon

  • IV Dextrose und Thiamin

  • Infusionen, manchmal Vasopressoren

Atemwege, Atmung und Kreislauf müssen bei Patienten, bei denen eine systemische Vergiftung vermutet wird, aufrechterhalten werden. Patienten ohne Puls oder Blutdruck erfordern eine Notfall-Reanimation.

Bei allen Patienten mit Atemstillstand oder beeinträchtigten Atemwegen (z. B. Fremdkörper im Oropharynx, abgeschwächter Husten- und Würgereflex) sollte eine endotracheale Intubation erfolgen (siehe Tracheale Intubation). Bei Patienten mit respiratorischer Insuffizienz oder Hypoxämie sollte je nach Bedarf die Gabe von zusätzlichen Sauerstoff per inhalationem oder eine mechanische Beatmung erfolgen.

Naloxon IV (2 mg bei Erwachsenen; 0,1 mg/kg bei Kindern; Dosen von bis zu 10 mg können in einigen Fällen notwendig sein) sollte bei Patienten mit Apnoe oder schwerer Atemdepression unter Beibehaltung der Atemwegsunterstützung versucht werden. Bei Opiatabhängigen kann Naloxon ein Entzugssyndrom auslösen, wobei das Entzugssyndrom im Vergleich zur ernsten Atemwegsdepression das geringere Übel darstellt. Sofern eine Atemdepression trotz Einsatz von Naloxon persistiert, sind die endotracheale Intubation und kontinuierliche mechanische Ventilation erforderlich. Sofern Naloxon die Atemdepression aufhebt, müssen die Patienten sorgfältig überwacht werden; sobald die Atemdepression wieder auftritt, sollten die Patienten durch eine erneute Bolusinjektion von Naloxon oder durch eine endotracheale Intubation und eine mechanische Beatmung behandelt werden. Die Anwendung einer niedrig dosierten kontinuierlichen Infusion von Naloxon ohne einem Entzug auszulösen, wurde empfohlen, kann jedoch in der Praxis schwierig durchzuführen sein.

Bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen oder Depression des Zentralnervensystems (ZNS) solle Dextrose i.v. (50 ml einer 50%igen Lösung für Erwachsene; 2 bis 4 ml/kg einer 25%igen Lösung für Kinder) verabreicht werden, es sei denn, eine Hypoglykämie wurde durch eine sofortige Blutzuckerbestimmung am Bett ausgeschlossen.

Thiamin (100 mg IV) wird zusammen mit oder vor der Glukose bei Erwachsenen mit Verdacht auf Thiamin-Mangel (z. B. Alkoholiker, unterernährte Patienten) gegeben.

IV Infusionen werden bei Hypotonie gegeben. Sofern die Infusion von Flüssigkeiten den Blutdruck nicht anhebt, sollte ein invasives hämodynamisches Monitoring erfolgen, um die Gabe von Flüssigkeit und blutdrucksteigernden Mitteln zu steuern. Blutdrucksteigerndes Mittel der ersten Wahl für die meisten vergiftungsinduzierten Kreislaufinsuffizienzen stellt Noradrenalin in einer Dosis von 0,5–1 mcg/min IV dar; alternativ sollten andere blutdrucksteigernde Mittel (Vasopressoren) zum Einsatz kommen, wenn Noradrenalin nicht sofort zur Verfügung steht.

Topische Dekontamination

Alle Körperoberflächen (einschl. der Augen), die dem Gift ausgesetzt waren, sollten mit großen Mengen von Leitungswasser oder physiologischer Kochsalzlösung gespült werden. Kontaminierte Kleidung, darunter auch Schuhe und Socken sowie Schmuck, sollten entfernt werden. Topische Pflaster und transdermale Abgabesysteme werden entfernt.

Aktivkohle

Üblicherweise wird Aktivkohle verabreicht, besonders bei der Einnahme mehrerer oder unbekannter Substanzen. Die Verwendung von Aktivkohle ist gewöhnlich mit einem geringen Risiko behaftet, sofern die Patienten nicht erbrechen und Kohle aspirieren. Dennoch konnte ihre Anwendung in großen Studien nicht zu einer signifikanten Reduktion der Gesamtmorbidität oder -mortalität beitragen. Aktivkohle sollte so bald wie möglich gegeben werden. Aktivkohle adsorbiert die meisten Gifte aufgrund der großen Oberfläche. Die wiederholte Gabe von Aktivkohle kann vor allem bei jenen Substanzen effektiv sein, die einem enterohepatischen Kreislauf unterliegen (z. B. Phenobarbital, Theophyllin), sowie bei retardierten Präparaten. Bei schweren Vergiftungen mit den oben aufgeführten Substanzen sollte Aktivkohle im Abstand von 4–6 h verabreicht werden, es sei denn die Darmgeräusche sind schwach. Nicht wirksam ist Aktivkohle bei Säuren und Laugen, Alkoholen und einfachen Salzen (z. B. Zyanid, Eisen, andere Metalle und Lithium).

Die empfohlene Dosierung sollte das 5- bis 10-Fache der eingenommenen Giftmenge betragen. Da die Menge des eingenommenen Giftes im Allgemeinen nicht genau bekannt ist, stellt die übliche Dosierung 1 g/kg dar, was bei Kinder < 5 Jahre 10–25 g und bei älteren Kindern und Erwachsene 50–100 g entspricht. Aktivkohle wird als Suspension in Wasser oder Softdrinks verabreicht. Sie kann unangenehm schmecken und bei 30% der Patienten kommt es zum Erbrechen. Eine Verabreichung über eine Magensonde kann in Betracht gezogen werden, aber Vorsicht ist geboten, um Verletzungen durch den Tubus oder die Aspiration von Aktivkohle zu vermeiden; die potenziellen Vorteile müssen die Risiken überwiegen. Aktivkohle soll ohne Verwendung von Sorbitol oder anderen Abführmitteln erfolgen, da diese keinen klaren Vorteil erbringen und Nebenwirkungen wie Dehydratation oder Elektrolytstörungen bewirken können.

Magenentleerung

In der Vergangenheit war die Magenentleerung weit verbreitet und akzeptiert und schien intuitiv von Vorteil zu sein. Heutzutage sollte sie allerdings nicht mehr routinemäßig durchgeführt werden. Diese Maßnahme kann die Gesamtmorbidität oder -mortalität nicht eindeutig reduzieren und birgt ihrerseits Risiken. Eine Magenentleerung kann dann erwogen werden, wenn sie innerhalb einer Stunde nach Einnahme einer lebensbedrohlichen Dosis durchgeführt wird. Meistens werden viele Patienten mit Vergiftungen zu spät vorgestellt, und es ist nicht immer klar, ob eine Vergiftung einen lebensbedrohlichen Charakter hat. Daher ist die Magenentleerung selten indiziert. Bei Einnahme von Säuren, Laugen, Lösemitteln, Schaumbildnern und Substanzen, die zerebrale Krampfanfälle auslösen können, ist sie sogar kontraindiziert (siehe Ingestion von ätzenden Substanzen).

Wird die Entleerung des Magens angestrebt, gilt die Magenspülung als die bevorzugte Methode. Die Spülung des Magens kann Komplikationen wie Nasenblutens, Aspiration oder selten Verletzungen des Oropharynx und Ösophagus nach sich ziehen. Die Wirkung von Ipecacuanha-Sirup lässt sich nur schwer abschätzen, bewirkt häufig anhaltendes Erbrechen und entfernt möglicherweise nicht genügend große Giftmengen aus dem Magen. Die Gabe von Ipecacuanha-Sirup kann dann gerechtfertigt sein, wenn die eingenommene Substanz sehr toxisch ist und die Zeit bis zur Ankunft in der Notaufnahme ungewöhnlich lang ist, was aber in der Regel selten der Fall ist.

Zur Magenspülung wird über einen Schlauch handwarme physiologische Kochsalzlösung instilliert und aus dem Magen wieder abgelassen. Um auch Tablettenreste zu entfernen, sollte der größtmögliche Durchmesser (üblicherweise > 36 French für Erwachsene und 24 French für Kinder) verwendet werden. Sofern Patienten eine eingeschränkte Bewusstseinslage oder einen fehlenden Würgereflex haben, sollte vor Durchführung der Spülung als Aspirationsschutz eine tracheale Intubation erfolgen (mit geblocktem Tubus). Als weiterer Aspirationsschutz empfiehlt sich die Linksseitenlage; anschließend sollte der Spülkatheter oral eingeführt werden. Da die Spülung gelegentlich Substanzen in tiefere Abschnitte des Magen-Darm-Trakts befördert, sollte vorher der Mageninhalt herausgesaugt und direkt im Anschluss 25 g Aktivkohle durch den Spültubus instilliert werden. Anschließend werden Aliquote von physiologischer Kochsalzlösung (3 ml/kg) instilliert und nach dem Hebe-Senk-Prinzip abgelassen oder mit einer Spritze abgezogen. Üblicherweise sind Flüssigkeitsmengen zwischen 500 ml und 3 l erforderlich. Der Spülvorgang wird so lange fortgesetzt, bis die wiedergewonnene Flüssigkeit klar ist. Zum Abschluss des Spülvorgangs werden noch einmal 25 g Aktivkohle instilliert.

Darmspülung

Diese Maßnahme bewirkt eine Spülung des Darms und soll vom theoretischen Standpunkt aus die Absorption von Tabletten oder anderen galenischen Zubereitungen verhindern. Eine Reduktion der Mortalität oder Morbidität konnte für diese Maßnahme nicht gezeigt werden. Eine Spülung ist in folgenden Fällen angezeigt:

  • Einige schwerwiegende Vergiftungen durch Präparate mit verzögerter Freisetzung oder Substanzen, die nicht durch Aktivkohle adsorbiert werden, z. B. Schwermetalle.

  • Drogenpäckchen (z. B. latexbeschichtete Päckchen mit Heroin oder Kokain, die zum Drogentransport im Körper versteckt werden)

  • Verdacht auf Konglomeratbildung

Eine handelsübliche Lösung aus Polyethylenglykol (das nicht resorbierbar ist) und Elektrolyten, wie sie manchmal zur Reinigung des Darms für die Koloskopie verwendet wird, wird mit einer Geschwindigkeit von 1–2 l pro Stunde bei Erwachsenen oder 25–40 ml/kg/Stunde bei Kindern verabreicht, bis der rektale Ausfluss klar ist; dieser Prozess kann viele Stunden oder sogar Tage dauern. Üblicherweise wird die Lösung über eine nasogastrale Sonde verabreicht, auch wenn kooperative Patienten diese Flüssigkeitsmengen oral zu sich nehmen können.

Alkalische Diurese

Die alkalische Diurese beschleunigt die Elimination von schwachen Säuren wie z. B. Salicylate, Phenobarbital. Dazu wird eine Lösung aus 1 l 5%iger Glukose zusammen mit 3 Ampullen à 50 mEq NaHCO3 und 20–40 mEq (20–40 mmol/l) Kalium mit einer Geschwindigkeit von 250 ml/h bei Erwachsenen bzw. 2–3 ml/kg/h bei Kindern verabreicht. Der pH-Wert des Urins wird bei > 8 gehalten und Kalium wird aufgefüllt. Hypernatriämie, Alkalose oder Hyperhydratation können gelegentlich vorkommen, sind üblicherweise jedoch unproblematisch. Die alkalische Diurese ist bei niereninsuffizienten Patienten kontraindiziert.

Dialyse

Häufige Giftstoffe, die eine Dialyse oder Hämoperfusion erfordern, sind:

  • Ethylenglykol

  • Lithium

  • Methanol

  • Salicylate

  • Theophyllin

Weniger wirksam ist eine solche Behandlung, wenn die toxische Substanz aus großen Molekülen besteht, ein großes Verteilungsvolumen (z. B. bei Speicherung im Fettgewebe) oder eine sehr starke Proteinbindung aufweist (wie z. B. Digoxin, Phencyclidin, Phenothiazin oder trizyklische Antidepressiva). Die Indikation zur Hämodialyse wird sowohl von den Laborparametern als auch vom klinischen Erscheinungsbild abhängig gemacht. Die in Frage kommenden Dialysemöglichkeiten sind neben Hämodialyse, Peritonealdialyse oder Fettdialyse (zur Entfernung fettlöslicher Substanzen aus dem Blut—siehe Nierenersatztherapie).

Spezifische Antidote

Die am häufigsten verwendeten Gegenmittel finden Sie in der Tabelle Gängige spezifische Gegenmittel. Bei Vergiftungen mit Schwermetallen oder gelegentlich auch bestimmten anderen Substanzen kommen Chelatbildner zur Anwendung (siehe Tabelle Richtlinien für die Chelat-Therapie). Intravenöse Fettemulsionen in 10%igen und 20%igen Konzentrationen sowie hohe Dosen von Insulin werden erfolgreich angewendet, um verschiedene Cardiotoxine zu hemmen (z. B. Bupivacain, Verapamil).

Tabelle
Tabelle

Weitere unterstützende Maßnahmen

Die meisten Symptome (z. B. Agitiertheit, Sedierung, Koma, Hirnödem, Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen und Hypoglykämie) werden durch die üblichen supportiven Maßnahmen behandelt (siehe an anderer Stelle im MSD-Manual).

Medikamentenbedingte Hypotonie sowie Herzrhythmusstörungen sprechen auf die üblichen Behandlungsmaßnahmen womöglich aber nicht an. Bei therapierefraktärer Hypotonie, sollten Dopamin, Noradrenalin andere Vasopressoren, eine intraaortale Gegenpulsation oder in Ausnahmefällen auch eine extrakorporale Kreislaufunterstüzung erwogen werden.

Im Falle von therapierefraktären Herzrhythmusstörungen kann die elektrische Kardioversion bzw. ein Overdrive-Pacing erforderlich sein. Häufig können Torsade-de-Pointes-Tachykardien mit Magnesiumsulfat (2–4 g IV), mit Overdrive-Pacing oder durch eine titrierte Isoproterenolinfusion behandelt werden.

Krampfanfälle werden mit Benzodiazepinen behandelt. Phenobarbital und Propofol wurden eingesetzt, wenn Benzodiazepine unwirksam waren. Schwere Agitation sollte behandelt werden. Hierfür kann die Gabe von hochdosierten Benzodiazepinen, anderen potenten Sedativa wie Propofol oder – sehr selten – auch die Einleitung einer Narkose mit mechanischer Beatmung und Muskelrelaxation notwendig werden.

Hyperthermie wird eher mit einer starken Sedierung und physikalischen Kühlung als durch die Anwendung von Antipyretika behandelt. Ein Organversagen kann die Nierentransplantation oder Lebertransplantation erforderlich machen.

Stationäre Krankenhausaufnahme

Generelle Indikationen für die stationäre Aufnahme in einem Krankenhaus sind Veränderungen der Bewusstseinslage, persistierend abweichende Vitalparameter und abzusehende verzögerte Toxizität. Eine stationäre Krankenhausaufnahme sollte erwogen werden, wenn Patienten retardierte Präparate eingenommen haben, insb. auch nach der Einnahme von Pharmaka mit potenziell schweren Nebenwirkungen wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Medikamenten. Wenn es keine weiteren Gründe für einen Krankenhausaufenthalt gibt, die indizierten Laborwerte normal sind, und nach einer Beobachtungszeit von 4–6 h keine Symptome mehr da sind, können die meisten Patienten entlassen werden. Wenn die Einnahme des Giftes jedoch beabsichtigt war, müssen die Patienten psychiatrisch untersucht werden.

Prävention von Vergiftungen

Durch den weit verbreitete Einsatz von Arzneimittelverpackungen mit Kindersicherungen bzw. Schutzkappen konnte die Anzahl der tödlichen Vergiftungen bei Kindern unter 5 Jahren drastisch reduziert werden. Die Verringerung der Tablettenzahl pro Einzelpackung frei verkäuflicher Analgetika reduziert die Schwere von Vergiftungen, insb. bei Paracetamol, Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen.

Andere präventive Maßnahmen sind

  • Eindeutigen Kennzeichnung von Haushaltsprodukten und Medikamenten

  • Aufbewahren von Arzneimitteln und toxischen Substanzen in Schränken, die verschlossen und für Kinder unzugänglich sind

  • Die sofortige und korrekte Entsorgung von abgelaufenen Medikamenten über offizielle Sammelstellen (wie Apotheken), wo sie für Kinder unerreichbar sind.

  • Verwendung von Kohlenmonoxidanzeigern

  • Verzicht auf die Verschreibung von Opioiden und Verwendung von Nonopioid-Behandlungen, wann immer dies möglich ist

Wichtig ist auch die Aufklärung der Allgemeinbevölkerung über das korrekte Aufbewahren von Substanzen in ihren Originalbehältnissen (z. B. keine Abfüllung von Insektiziden in Trinkflaschen). Die Prägung/Aufdruck von Tabletten hilft Patienten, Apothekern und Mitarbeitern im Gesundheitswesen Verwechslungen und Fehlern zu vermeiden.

Wichtige Punkte

  • Vergiftungen sollten von Hypersensitivitäts- und idiosynkratischen Reaktionen unterschieden werden, die unvorhersehbar und nicht dosisbezogen sind, sowie von Unverträglichkeiten, die im Allgemeinen eine toxische Reaktion auf üblicherweise nichttoxische Dosen einer Substanz darstellen.

  • Das Erkennen eines Toxidroms (z. B. Anticholinergika, Muskarinrezeptor-Agonisten, Nikotinrezeptor-Agonisten, Opioide, Sympathomimetika, Entzug) kann helfen, die Differenzialdiagnose zu erleichtern.

  • DieToxizität kann sofort oder verzögert eintreten, z. B. durch Paracetamol, Eisen, Knollenblätterpilze oder durch Pilze, die eine verzögerte Hepatotoxizität verursachen. Sie kann aber auch erst nach einer wiederholter Exposition auftreten.

  • Das Erkennen von Vergiftungen und die Identifizierung eines spezifischen Gifts kann dadurch verbessert werden, dass bei allen Patienten mit ungeklärten Veränderungen im Bewusstsein auch an die Möglichkeit einer Vergiftung gedacht wird. In diesem Zusammenhang ist eine gründliche Untersuchung der Vorgeschichte sehr hilfreich.

  • Auch andere Ursachen müssen bei Verdacht auf eine Vergiftung berücksichtigt werden, wenn das Bewusstsein verändert ist, wie z. B. Infektion des Zentralnervensystems, Schädeltrauma, Hypoglykämie, Schlaganfall, hepatische Enzephalopathie, Wernicke-Enzephalopathie.

  • ToxikologischeTests (z. B. Drogen-Immunoassays) sollten nur gezielt eingesetzt werden, weil sie unvollständige oder unrichtige Angaben liefern können.

  • Alle Vergiftungen werden unterstützend behandelt. Ein Einsatz von Aktivkohle bei schweren oralen Vergiftungen und andere Methoden werden je nach Bedarf erwogen.

Weitere Informationen

Im Folgenden finden Sie eine englischsprachige Quelle, die nützlich sein könnte. Bitte beachten Sie, dass das MSD-Manual nicht für den Inhalt dieser Quellen verantwortlich ist.

  1. Hazardous Materials Tools: Eine durchsuchbare Datenbank bekannter toxischer Substanzen, kuratiert vom Wireless Information System for Emergency Responders (WISER) der U.S. Library of Medicine