Evidenzbasierte Medizin und klinische Richtlinien

VonBrian F. Mandell, MD, PhD, Cleveland Clinic Lerner College of Medicine at Case Western Reserve University
Überprüft/überarbeitet Mai 2021
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Ärzte waren schon immer der Überzeugung, dass ihre Entscheidungen auf Beweisen beruhen, deshalb ist der neue Begriff einer "evidenzbasierten Medizin" etwas irreführend. Doch für viele Ärzte ist der "Beweis" oft eine vage Kombination aus Strategien, die bei früheren Patienten oft wirksam waren, Ratschlägen von Professoren und Kollegen, und einem allgemeinen Gefühl "zu wissen was zu tun ist" aufgrund von verschiedenen Fachartikeln, Aufsätzen, Symposien und Arzneimittelwerbungen. Diese Art der Vorgehensweise führt zu einer großen Bandbreite an Strategien für die Diagnose und den Umgang mit ähnlichen Situationen, selbst wenn starke Belege für die eine oder andere Strategie existieren. Es gibt auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, verschiedenen Regionen, verschiedenen Krankenhäusern und sogar innerhalb einzelner Gemeinschaftspraxen. Diese Unterschiede haben zu einer Forderung nach einem systematischen Ansatz geführt, um die am besten geeignete Strategie für einen einzelnen Patienten zu finden. Dieser Ansatz wird als evidenzbasierte (empirisch belegte) Medizin (EbM) bezeichnet. EbM basiert auf Bewertungen der einschlägigen medizinischen Literatur und folgt einer bestimmten Reihenfolge von einzelnen Schritten.

Evidenzbasierte Medizin

EbM ist nicht das blinde Anwenden von Ratschlägen aus kürzlich veröffentlichter Literatur zu einzelnen Gesundheitsproblemen. Es bedeutet nicht, dass es ein "Einheitsmodell" für die Pflege gibt. Vielmehr erfordert die EbM die Abfolge einer Reihe von Schritten, um ausreichend nützliche Informationen für eine sorgfältige Diagnose für jeden einzelnen Patienten zu sammeln. Die Prinzipien der EbM voll und ganz zu berücksichtigen, bedeutet auch das Einbeziehen des Wertesystems des Patienten, was wiederum auch die Fragen der Kosten, der Ethik und der Selbstständigkeit des Patienten berührt. Die Anwendung der Grundsätze der EbM umfasst in der Regel die folgenden Schritte:

  • Formulieren einer klinischen Fragestellung

  • Empirische Belege zur Beantwortung der Frage

  • Bewertung der Qualität und Gültigkeit der Belege

  • Entscheidung darüber, wie die Evidenz bei der Behandlung eines bestimmten Patienten anzuwenden ist

Formulieren einer klinischen Fragestellung

Fragen müssen konkret sein. Spezifische Fragen werden am ehesten in der medizinischen Literatur angesprochen. Gefragt wird nach der Bevölkerung, der Art der Intervention (Diagnosetest, Behandlung), verschiedenen Behandlungsansätzen und dem Ergebnis. "Was ist der beste Weg, um jemanden mit Bauchschmerzen zu beurteilen?" ist keine allzu nützliche Frage in der Literatur. Eine bessere, nämlich spezifischere Frage wäre: "Ist eine CT oder eine Sonographie sinnvoller, um die Diagnose für eine akute Appendizitis bei einem 30-jährigen Mann mit akuten Schmerzen im Unterleib zu bestätigen?"

Empirische Belege zur Beantwortung der Frage

Eine breite Auswahl von relevanten Studien kann nach einer Durchsicht der Literatur erhalten werden. Standardressourcen werden konsultiert (z. B. MEDLINE oder PubMed für primäre Referenzen, die Cochrane Collaboration [Behandlungsmöglichkeiten oft für spezifische Fragen], ACP Journal Club).

Bewertung der Qualität und Gültigkeit der Belege

Nicht alle wissenschaftlichen Studien sind von gleichem Wert. Verschiedene Arten von Studien haben unterschiedliche wissenschaftliche Stärken und Legitimität, und bei jeder Art von Studie unterscheiden sich die einzelnen Beispiele oft in der Qualität der Methodik, der internen Validität, der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und der Anwendbarkeit auf einen bestimmten Patienten (externe Validität).

Die Qualität der Belege wird mit Noten von 1 bis 5 in absteigender Reihenfolge der Qualität bewertet. Die Arten von Studien auf jeder Ebene variieren etwas mit der klinischen Frage (z. B. nach Diagnose, Behandlung oder ökonomischer Analyse), bestehen aber typischerweise aus folgendem:

  • Stufe 1 (höchste Qualität): Systematische Überprüfungen oder Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien und hochwertigen, einzelnen, randomisierten kontrollierten Studien.

  • Stufe 2 sind: Gut herausgearbeitete Kohortenstudien

  • Stufe 3: Systematisch kontrollierten Fallstudien

  • Stufe 4: Fallstudien und minderwertige Kohortenstudien und kontrollierte Fallstudien.

  • Stufe 5: Expertengutachten, die nicht auf kritischer Beurteilung basieren, sondern auf Überlegungen aus der Physiologie oder experimentellen Forschung oder den zugrunde liegenden Prinzipien.

Für die EbM-Analyse wird die höchste Stufe der verfügbaren Beweismittel ausgewählt. Idealerweise steht eine beträchtliche Anzahl von großen, gut durchgeführten Studien der Stufe 1 zur Verfügung. Da jedoch die Zahl der qualitativ hochwertigen, randomisierten, kontrollierten Studien verschwindend klein ist im Vergleich mit der Anzahl der möglichen klinischen Fragen, ist häufig ein Beleg aus Stufe 4 oder 5 oft alles, was verfügbar ist. Belege geringerer Qualität bedeuten nicht, dass die EbM nicht verwendet werden kann, sondern dass die Schlussfolgerung schwächer begründet ist.

Entscheidung, wie die Evidenz in die konkrete Pflege eines bestimmten Patienten umgesetzt werden soll

Da die besten verfügbaren Beweise von Patientenpopulationen mit anderen Eigenschaften als die des betroffenen Patienten stammen können, ist ein erhebliches Urteilsvermögen erforderlich, wenn Ergebnisse aus einer randomisierten Studie auf einen bestimmten Patienten angewendet werden. Darüber hinaus müssen die Wünsche der Patienten in Bezug auf aggressive oder invasive Tests und Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigt werden, sowie ihre Fähigkeit, Beschwerden, Risiko und Unsicherheit zu ertragen. Zum Beispiel kann es sein, dass es gute Belege dafür gibt, dass eine 3-monatige aggressive Chemotherapie bei einer bestimmten Form von Krebs erfolgreich sein kann. Dennoch können die Patienten evtl. damit nicht einverstanden sein, die zusätzlichen Beschwerden der Behandlung zu ertragen. Die Kosten für Tests und Behandlungen können auch die Entscheidungsfindung von Arzt und Patient beeinflussen, vor allem wenn einige der Alternativen deutlich teurer für den Patienten sind. Zwei allgemeine Bedenken bestehen darin, dass Patienten, die freiwillig an klinischen Prüfungen teilnehmen, nicht mit Patienten in der Allgemeinmedizin identisch sind, und dass die Versorgung in einer klinischen Prüfumgebung nicht mit der allgemeinen Versorgung in der medizinischen Gemeinschaft identisch ist.

Einschränkungen des evidenzbasierten Ansatzes

Dutzende von klinischen Fragen werden im Laufe eines einzigen Tages in einer belebten Praxis aufgeworfen. Obwohl einige von diesen Fragen das Thema einer schon existierenden EbM-Leitlinie sein können, ist dies bei den meisten Fragen nicht der Fall, und das Erstellen einer formalen EbM-Analyse ist zu zeitaufwendig, um im hektischen Praxis- oder Klinikalltag nützlich sein zu können. Auch wenn die Zeit kein Faktor sein sollte, gibt es zu einigen klinischen Fragen keine relevanten Studien in der Literatur.

Klinische Leitlinien

Klinische Leitlinien sind in der medizinischen Praxis inzwischen weit verbreitet; viele Fachgesellschaften haben solche Leitlinien veröffentlicht. Die meisten gut durchdachten klinischen Leitlinien werden nach einer bestimmten Methode entwickelt, die die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin und die von einem Expertengremium im Konsens- oder Delphi-Verfahren ausgesprochenen Empfehlungen berücksichtigt. Obwohl klinische Richtlinien eine idealisierte Praxis beschreiben können, können klinische Leitlinien allein nicht den Standard der Behandlung für den einzelnen Patienten begründen.

Einige klinische Leitlinien sind auf logischen „Wenn-dann“-Regeln aufgebaut (z. B. wenn ein Patient mit Fieber neutropenisch ist, dann sind Breitspektrumantibiotika angebracht). Komplexere, mehrstufige Regeln können als Algorithmen formalisiert werden. Richtlinien und Algorithmen sind in der Regel unkompliziert und einfach zu handhaben, sollten aber nur bei Patienten angewandt werden, deren klinische Merkmale (z. B. Demographie, Begleiterkrankungen, klinische Merkmale) mit denen der in den Leitlinien untersuchten Patientengruppe vergleichbar sind. Außerdem berücksichtigen Leitlinien nicht die Unsicherheit, die immer bei Testergebnissen im Raum steht, oder auch bei der Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs und den relativen Risiken und Vorteilen der einzelnen Maßnahme. Um diese Unsicherheit und den Wert der Behandlungserfolge in die klinische Entscheidungsfindung zu integrieren, müssen Ärzte oft die Grundsätze der quantitativen oder analytischen medizinischen Entscheidungsfindung befolgen (siehe auch Klinische Strategien der Entscheidungsfindung). Darüber hinaus verlangen viele Einrichtungen, die Leitlinien veröffentlichen, dass nur Daten aus randomisierten Studien verwendet werden, was oft eine erhebliche Einschränkung darstellt.