Chronisches Erschöpfungssyndrom

(Systemic Exertion Intolerance Disease; SEID; myalgische Enzephalomyelitis; ME/CFS)

VonStephen Gluckman, MD, Perelman School of Medicine at The University of Pennsylvania
Überprüft/überarbeitet Juli 2023
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Kurzinformationen

Beim chronischen Erschöpfungssyndrom, auch als myalgische Enzephalomyelitis oder Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) bezeichnet, handelt es sich um eine lang andauernde, schwere und kräftezehrende Erschöpfung ohne nachweisbare körperliche oder psychische Ursache und ohne objektive Auffälligkeiten bei körperlichen Untersuchungen oder Laboruntersuchungen.

  • Die unerklärliche Erschöpfung hält sechs aufeinanderfolgende Monate oder länger an.

  • Manchmal treten die Symptome erstmals nach einer Krankheit auf, die einer Virusinfektion ähnelt.

  • Die Behandlung umfasst die Linderung der Symptome, kognitive Verhaltenstherapie und stufenweise aufgebaute Trainingsprogramme.

Obwohl bis zu 25 % der Bevölkerung angeben, chronisch erschöpft zu sein, liegt nur bei 0,5 % (1 von 200) ein chronisches Erschöpfungssyndrom vor. Das chronische Erschöpfungssyndrom tritt vor allem bei Personen im Alter von 20 bis 50 Jahren auf und wird bei jungen Frauen und Frauen im mittleren Alter häufiger beschrieben als bei Männern, obwohl es in allen Altersklassen, auch bei Kindern, beobachtet wurde. Personen, die am chronischen Erschöpfungssyndrom leiden, weisen echte und häufig einschränkende Symptome auf. Das chronische Erschöpfungssyndrom ist nicht gleichbedeutend mit dem Vortäuschen von Symptomen (einer Erkrankung, die als „Simulieren“ bezeichnet wird).

Ursachen für das chronische Erschöpfungssyndrom

Trotz beträchtlicher Forschungsanstrengungen ist die Ursache des chronischen Erschöpfungssyndroms bislang nicht bekannt. Ob eine einzige oder mehrere Ursachen zugrunde liegen und ob die Ursache physischer oder psychischer Natur ist, ist umstritten. In jedem Fall sind die Symptome für die betroffene Person sehr real.

Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Krankheit letztlich mehrere Ursachen hat, wie etwa genetische Veranlagung, Kontakt mit Mikroben oder Giftstoffen sowie andere körperliche und emotionale Faktoren.

Ansteckende Krankheiten

Einige Studien deuten auf Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, dem Zytomegalievirus, dem Bakterium, das die Lyme-Krankheit verursacht oder Candida (einem Hefepilz) als mögliche Ursachen des chronischen Erschöpfungssyndroms hin. Neuere Studien sprechen jedoch eher gegen diese Infektionen als Ursache des Syndroms. Darüber hinaus gibt es keine Hinweise darauf, dass andere Infektionen (beispielsweise Infektionen mit dem Röteln-, Herpes- oder humanen Immundefizienzvirus [HIV]) mit dem Syndrom zusammenhängen.

Einige Menschen, die eine COVID-19-Infektion überstanden haben, leiden unter einem postviralen Müdigkeitssyndrom mit anhaltenden Symptomen. Einige dieser Symptome sind das Ergebnis einer Organschädigung durch die Infektion und/oder Behandlung, andere können auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zurückzuführen sein. Darüber hinaus scheint COVID-19 bei manchen Menschen ein typisches chronisches Erschöpfungssyndrom auszulösen. Derzeit gibt es nur begrenzte Daten und Informationen über die langfristigen Auswirkungen von COVID-19, sodass weitere Studien erforderlich sind, um festzustellen, ob sich bei manchen Menschen mit verzögerter Genesung ein chronisches Erschöpfungssyndrom entwickelt.

Immunologische Störungen

Einige kleinere Auffälligkeiten im Immunsystem sind möglich. Diese werden kollektiv als Dysregulation des Immunsystems bezeichnet. Es gibt jedoch keine besonders charakteristischen Auffälligkeiten der Erkrankung. Personen, die am chronischen Erschöpfungssyndrom leiden, haben kein ernstes medizinisches Problem in Bezug auf ihr Immunsystem. Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom sind nicht immungeschwächt und haben kein erhöhtes Infektionsrisiko. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Allergien die Ursache sind, obwohl 65 Prozent der Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom zuvor Allergien hatten. Es wurde auch kein Zusammenhang des chronischen Erschöpfungssyndroms mit hormonellen Störungen oder psychischen Gesundheitsstörungen nachgewiesen.

Genetische und Umweltfaktoren

Die Erkrankung scheint familiär bedingt zu sein, was möglicherweise auf eine genetische Komponente oder einen Auslöser in der Umgebung hindeutet. Andererseits kann es genauso gut sein, dass die Mitglieder einer Familie ähnlich auf körperlichen und psychosozialen Stress reagieren und/oder den gleichen Substanzen ausgesetzt waren.

Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms

Die meisten Personen mit chronischem Erschöpfungssyndrom sind bis zum Auftreten der Erkrankung erfolgreich und hochgradig funktionsfähig. In der Regel tritt die Störung plötzlich und häufig nach einem belastenden Ereignis auf. Das Hauptsymptom des chronischen Erschöpfungssyndroms ist eine schwere Abgeschlagenheit für mindestens sechs Monate, die zu einer starken Einschränkung alltäglicher Aktivitäten führt. Der Erschöpfungszustand besteht bereits beim Aufwachen und hält den Rest des Tages an. Während körperlichen Anstrengungen und Phasen mit psychischem Stress verschlimmert sich der Zustand häufig. Hinweise auf eine Muskelschwäche oder eine Gelenk- und Nervenstörung fehlen jedoch. Die extreme Erschöpfung beginnt oft während oder nach der Erholung von einer Krankheit, die mit Fieber, einer laufenden Nase und schmerzhaften und empfindlichen Lymphknoten einer Virusinfektion ähnelt. Allerdings tritt die Erschöpfung bei manchen Personen ohne vorhergehende Erkrankung auf.

Weitere mögliche Symptome sind Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen, Halsentzündung, Kopfschmerzen, Gelenk- und Muskelschmerzen sowie Bauchschmerzen. Depressionen sind häufig, vor allem, wenn die Symptome schwerwiegend sind oder sich verschlechtern. Die Symptome überschneiden sich häufig mit denen einer Fibromyalgie, einer möglicherweise verwandten Erkrankung.

Die Diagnose des chronischen Erschöpfungssyndroms

  • Laboruntersuchungen, um andere Ursachen für Symptome auszuschließen

Es gibt keine Laboruntersuchung, die zum Nachweis des chronischen Erschöpfungssyndroms durchgeführt werden kann. Daher müssen andere Erkrankungen ausgeschlossen werden, die ähnliche Symptome hervorrufen können. Manchmal führen Ärzte Untersuchungen zum Ausschluss anderer Erkrankungen wie Anämie, Auffälligkeiten in Bezug auf Elektrolyten, Niereninsuffizienz, entzündliche Erkrankungen (wie beispielsweise rheumatoide Arthritis), Schlafstörungen oder Erkrankungen der Schilddrüse oder Nebennierenkrankheiten durch. Die Diagnose des chronischen Erschöpfungssyndroms wird nur gestellt, wenn keine andere Ursache, einschließlich der Nebenwirkungen von Medikamenten, gefunden wird, mit der die Erschöpfung und andere Symptome erklärt werden können.

Im Jahr 2015 hat das Institute of Medicine (heute Health and Medicine Division of The National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine) einen neuen Namen für diese Krankheit vorgeschlagen: Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID), in etwa „Erkrankung mit systemischer Anstrengungsintoleranz“. Die Validität dieser beträchtlichen Störung wurde auch anerkannt und die Diagnosekriterien wurden vereinfacht. Laut den Kriterien muss eine betroffene Person die folgenden drei Symptome haben:

  • Eine erhebliche Minderung oder Beeinträchtigung, den beruflichen, schulischen, sozialen oder persönlichen Aktivitäten wie vor der Krankheit nachzugehen, die mehr als sechs Monate andauert und von einer Erschöpfung begleitet wird, die häufig erheblich ist, neu oder zu einem bestimmten Zeitpunkt eingesetzt hat (sie besteht also noch nicht das ganze Leben lang), die nicht die Folge einer dauerhaften, übermäßigen Anstrengung ist und die durch Ruhe nicht deutlich verbessert wird.

  • Symptome verschlechtern sich bei körperlicher Aktivität.

  • Kein erholsamer Schlaf

Zudem muss eines der folgenden Symptome vorliegen:

  • Schwierigkeiten beim Denken

  • Benommenheit oder Schwindelgefühl beim Aufstehen mit Besserung durch Hinlegen

Häufigkeit und Schwere der Symptome sollten von einem Arzt beurteilt werden. Wenn die Symptome nicht mindestens die Hälfte der Zeit mit mäßiger, deutlicher oder starker Intensität vorliegen, überdenken Ärzte die Diagnose eines chronischen Erschöpfungssyndroms.

Die Diagnosekriterien sind hauptsächlich deshalb wichtig, weil sie den Ärzten helfen, klar miteinander zu kommunizieren, wenn sie ein Problem untersuchen. Bei der Behandlung einer bestimmten Person konzentrieren sich die Ärzte jedoch eher auf die Symptome der Person als auf die Kriterien.

Behandlung des chronischen Erschöpfungssyndroms

  • Kognitive Verhaltenstherapie

  • Schrittweise gesteigertes Training

  • Medikamente gegen Depression, Schlaf- oder Schmerzmittel nach Indikation

Meist werden die Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms mit der Zeit schwächer. Es kann jedoch häufig Jahre dauern, bis die Symptome abklingen, und nicht alle Symptome verschwinden. Die Betroffenen erholen sich möglicherweise besser, wenn sie sich auf die Funktionen konzentrieren, die sie wiedererlangen können, anstatt auf die Fähigkeiten, die sie verloren haben.

Bestimmte Symptome wie Schmerzen, Depressionen und Schlafstörungen werden behandelt. Eine kognitive Verhaltenstherapie und ein stufenweises Trainingsprogramm, die bei manchen Betroffenen wirksam waren, sind möglicherweise einen Versuch wert.

Kognitive Verhaltenstherapie

Kognitive Verhaltenstherapie besteht für gewöhnlich aus einer kurzzeitigen Psychotherapie mit dem Ziel, negative Gedanken umzuleiten, die einer positiven Haltung, die für eine Erholung förderlich sein kann, im Wege stehen könnten.

Schrittweise gesteigertes Training

Ausgedehnte Bettruhe und lange Phasen körperlicher Inaktivität können die Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms noch verschlimmern. Ein stufenmäßiges Heranführen an regelmäßigen Ausdauersport wie Walking, Schwimmen, Radfahren und Jogging unter strenger medizinischer Aufsicht (ein abgestuftes Bewegungsprogramm) kann die Erschöpfung vermindern und die körperliche Funktion verbessern. Formelle und strukturierte Programme zur körperlichen Wiederherstellung sind gegebenenfalls am besten.

Medikamente und alternative Heilmethoden

Bestimmte Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms wie Schmerzen, Depressionen und Schlafstörungen werden behandelt.

Viele verschiedene Medikamente und alternative Heilmethoden wurden getestet, um die chronische Erschöpfung selbst zu verbessern. Obwohl manche Personen auf diverse Medikamente wie Antidepressiva und Kortikosteroide ansprechen, gibt es keines, das tatsächlich bei allen Betroffenen wirksam ist. Für Ärzte und andere Fachleute ist es manchmal schwierig festzulegen, welche Behandlung anschlagen wird, da die Symptome nicht nur je nach Person variieren, sondern auch so, wie sie gekommen sind, von allein wieder abklingen können.

Kontrollierte klinische Studien, in denen der Nutzen eines Medikaments mit dem eines Placebos (ein Scheinmedikament, das aussieht wie das Medikament, jedoch keinen aktiven Wirkstoff enthält) verglichen wird, sind zur Untersuchung von Therapien am besten geeignet. Bislang hat sich in kontrollierten Studien beim chronischen Erschöpfungssyndrom noch keine medikamentöse Therapie als wirksam erwiesen. Eine Reihe von Behandlungen, die auf mögliche Ursachen abzielen, wie beispielsweise die Gabe von Interferon, die intravenöse Injektion von Immunglobulin oder Virustatika erbrachten überwiegend enttäuschende Ergebnisse und waren potenziell gefährlich. Nahrungsergänzungsmittel wie Nachtkerzenöl, Fischölpräparate sowie hochdosierte Vitaminpräparate werden häufig angewendet, ihr Nutzen bleibt jedoch fraglich. Andere Alternativbehandlungen (wie z. B. mit essenziellen Fettsäuren, Tierleberextrakten, Ausschlussdiäten und der Entfernung von Zahnfüllungen) waren ebenfalls unwirksam. Behandlungen ohne nachweislichen Nutzen werden besser vermieden, da sie Nebenwirkungen haben können.

Weitere Informationen

Die folgenden Quellen in englischer Sprache können nützlich sein. Bitte beachten Sie, dass das MANUAL nicht für den Inhalt dieser Quellen verantwortlich ist.

  1. Centers for Disease Control and Prevention, Chronic Fatigue Syndrome (CFS): Allgemeine Informationen über das chronische Erschöpfungssyndrom und dessen Symptome und Behandlung

  2. Committee on the Diagnostic Criteria for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome; Board on the Health of Select Populations; Institute of Medicine. Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness Washington (DC): National Academies Press (US); 10. Feb. 2015