Bleivergiftung

(Plumbismus)

VonGerald F. O’Malley, DO, Grand Strand Regional Medical Center;
Rika O’Malley, MD, Grand Strand Medical Center
Überprüft/überarbeitet Juni 2022
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Bleivergiftungen lösen anfangs häufig nur geringfügige Beschwerden aus, können aber auch zu akuter Enzephalopathie oder irreversibler Organschädigung führen, die sich bei Kindern gewöhnlich in Form von kognitiven Defiziten manifestiert. Die Diagnose kann anhand der Bleikonzentration im Vollblut gestellt werden. Zur Behandlung gehören das Beenden der Bleiexposition und manchmal eine Chelatbildnertherapie mit Dimercaptoporpansulfonsäure (DMPS) oder Kalzium-Dinatrium-EDTA mit oder ohne Dimercaprol.

(Siehe auch Allgemeine Grundlagen zu Vergiftungen.)

Es gibt keine messbaren Blutbleispiegel, die keine schädlichen Auswirkungen haben. Die Centers for Disease Control and Prevention empfehlen, dass bei Kindern mit Blutbleiwerten > 5 mcg/dl (0,24 Mikromol/l) eine Identifizierung und Beseitigung der Blei-Quelle durchführt werden soll, eine Wiederholung der Bleibestimmung, sowie serielle Überwachung und eine Abklärung auf Vitaminmangel und den allgemeinen Ernährungszustand.

Ätiologie der Bleivergiftung

Bleilack wurde bis 1960 und teilweise bis in die 1970-er Jahre hinein häufig verwendet, bis die Herstellung dieser Lacke 1978 eingestellt wurde. Somit stellt für eine große Zahl von älteren Wohnhäusern Bleifarbe noch ein gewisses Risiko dar. Die Bleivergiftung wird üblicherweise durch direkte orale Aufnahme abgeblätterter Bleifarben verursacht. Bei Wohnungsrenovierungen können Patienten beträchtlichen Mengen Bleistaubs ausgesetzt sein, der durch das Abkratzen und Abschmirgeln von Oberflächen vor dem Auftragen des neuen Anstrichs entsteht.

Aus Keramiken mit Bleiglasur, wie sie außerhalb der USA/Europa zu finden sind, kann Blei vor allem durch saure Substanzen (z. B. Früchte, Cola-Getränke, Tomaten, Fruchtweine) freigesetzt werden. Bleihaltiger, schwarzgebrannter Whisky und volkstümlich überlieferte Heilmittel sind mögliche Quellen genauso wie gelegentlich bleihaltige Fremdkörper im Magen oder Gewebe (z. B. Geschosse/Projektile, Vorhang- oder Angelgewichte). Geschosse/Projektile im Weichteilgewebe (vor allem in der Nähe des Rückenmarks) können zu einem Anstieg der Bleikonzentration im Blut führen, allerdings dauert es bis dahin Jahre.

Eine berufliche Exposition beobachtet man bei der Herstellung und Wiederaufbereitung von Batterien, beim Brünieren, bei der Messing- und Glasherstellung, beim Schneiden von Rohrleitungen, beim Löten, Schweißen und Metallschmelzen oder bei Töpferarbeiten und Arbeiten mit Pigmenten. Gewisse volkstümlich überlieferte Kosmetika und importierte pflanzliche Produkte sowie pflanzliche Heilmittel enthalten Blei und haben bei Einwanderern zu Massenvergiftungen mit Blei geführt. Dämpfe von bleihaltigem Benzin (in Ländern außerhalb der Vereinigten Staaten oder Europas), die mit dem Ziel einer Wirkung auf das Zentralnervensystems missbräuchlich inhaliert werden, können eine Bleivergiftung verursachen.

Symptome und Anzeichen von Bleivergiftung

Die Bleivergiftung ist meist ein chronisches Krankheitsbild und muss keine Akutsymptomatik zeigen. Mit oder ohne Akutsymptomatik äußert sich die Vergiftung durch letztlich irreversible Schädigungen (z. B. kognitive Störungen, periphere Polyneuropathie, progressive Niereninsuffizienz).

Die Symptome einer Bleivergiftung korrelieren mit den Bleibwerten, aber es gibt keine Bleiwerte im Blut, die als ungefährlich angesehen werden können. Das Risiko für das Auftreten kognitiver Störungen steigt, wenn die Bleikonzentration im Vollblut (PbB) über einen längeren Zeitraum 10 mcg/dl ( 0,48 Mikromol/l) beträgt, wobei der Grenzwert vielleicht sogar noch niedriger liegt. Andere Symptome (z. B. Bauchkrämpfe, Obstipation, Tremor, Stimmungsschwankungen) können bei PbB > 50 mcg/dl (> 2,4 Mikromol/l) auftreten. Eine Enzephalopathie wird wahrscheinlich, wenn die PbB bei mehr als > 100 mcg/dl (> 4,8 Mikromol/l) liegt.

Bei Kindern

Bei Kindern kann eine akute Bleivergiftung Reizbarkeit, Aufmerksamkeitsdefizite und eine akute Enzephalopathie verursachen. Ein Hirnödem entwickelt sich über 1–5 Tage und führt zu anhaltendem, starkem Erbrechen, ataktischem Gangstörungen, Krampfanfällen, Bewusstseinsstörungen und schließlich zu therapierefraktären Krampfanfällen und Koma. Der Enzephalopathie kann eine mehrwöchige Episode von Reizbarkeit und herabgesetztem Spieltrieb vorausgehen.

Eine chronische Bleivergiftung führt bei Kindern zu geistiger Retardierung, Krampfleiden, aggressiven Verhaltensstörungen, Entwicklungsverzögerung, chronischen Bauchschmerzen und Anämie.

Bei Erwachsenen

Erwachsene mit einer gewerblichen Exposition entwickeln die Symptome (z. B. Persönlichkeitsveränderungen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Polyneuropathie) charakteristischerweise über mehrere Wochen oder eventuell über einen noch längeren Zeitraum. Eine Enzephalopathie ist ungewöhnlich. Bei Erwachsenen kann Verlust der Libido, Unfruchtbarkeit und, bei Männern, erektile Dysfunktion auftreten.

Bei Kindern und Erwachsenen

Bei Kindern wie Erwachsenen kann sich eine Anämie ausbilden, da Blei mit der Hämoglobin-Bildung interferiert. Kinder und Erwachsene, die Tetraethyl- oder Tetramethylblei (in verbleitem Benzin) inhalieren, können zusätzlich zu den stärker ausgeprägten, typischen Symptomen einer Bleivergiftung noch eine toxische Psychose entwickeln.

Diagnose von Bleivergiftung

  • Bleikonzentration in Kapillar- oder Vollblut

  • Röntgenaufnahmen des Abdomens

  • Manchmal Röntgenaufnahmen der langen Knochen bei Kindern mit Verdacht auf chronische Exposition

Die charakteristischen Symptome führen zur Verdachtsdiagnose einer Bleivergiftung. Doch weil die Symptome oft unspezifisch sind, erfolgt die Diagnosestellung einer Bleivergiftung oft verzögert. Die Bewertung umfasst ein komplettes Blutbild und die Messung der Serumelektrolyte, des Blut-Harn-Stickstoffs (BUN), des Serumkreatinins, des Plasmaglukosespiegels und des Vollblut-Bleigehalts (PbBs). Eine Röntgenuntersuchung des Abdomens sollte durchgeführt werden, um röntgendichte Bleipartikel zu erfassen. Bei Kindern wird eine Röntgenuntersuchung der langen Röhrenknochen vorgenommen. Die horizontalen, im Bereich der Metaphyse gelegenen Bleilinien sind als Ausdruck einer gestörten Knochenneubildung und einer verstärkten Kalziumablagerung in den Zonen vorläufiger Kalzifizierung der Röhrenknochen der Kinder einigermaßen spezifisch, für Vergiftungen mit Blei oder anderen Schwermetallen aber nicht sensitiv genug. Eine normozytäre oder mikrozytäre Anämie lässt an eine Bleivergiftung denken, vor allem wenn die Retikulozytenzahl erhöht oder eine basophile Tüpfelung der Erythrozyten zu beobachten ist; jedoch sind deren Sensitivität und Spezifität begrenzt. Die Diagnose ist dann gesichert, wenn die Bleikonzentration im Vollblut (PbB) 5 mcg/dl (0,24 Mikromol/l) beträgt.

Da die PbB-Bestimmung nicht immer möglich ist und auch teuer sein kann, können andere vorausgehende Screeninguntersuchungen für Bleivergiftungen eingesetzt werden. Die kapillare Blutuntersuchung auf Blei ist genau, kostengünstig und schnell. Alle positiven Screening-Tests sollten durch die Bestimmung des Bleis im Vollblut bestätigt werden. Die Bestimmung des erythrozytären Protoporphyrins (auch Zink-Protoporphyrin oder freies erythrozytäres Protoporphyrin genannt) ist oft ungenau und wird heute selten durchgeführt.

Kinder mit PbB > 3,5 mcg/dl (0,17mikromol/l) sollten klinisch untersucht werden und, wenn nötig, mit Untersuchungen auf Ernährungs- und Vitaminmangelerscheinungen (z. B. Eisen-, Kalzium- und Vitamin-C-Mangel).

Provozierende Tests

Provokative Urin-Metall-Tests auf Blei und andere Metalle funktionieren auf der Basis von Chelatbildnern (z. B. Dimercaptopropansulfonsäure, Kalziumdinatriumedetat), die dem Patienten gegeben werden. Die dann im Urin ausgeschiedenen Metallspiegel werden gemessen. Diese Tests wurden jedoch nicht wissenschaftlich verifiziert, konnten bisher keine Vorteile aufweisen und können sogar gefährlich sein, v. a. bei Patienten mit Verdacht auf eine Metallvergiftung.

Behandlung von Bleivergiftung

  • Beseitigung der Bleiquelle (z. B. durch Darmspülung, wenn Blei im Magen-Darm-Trakt ist)

  • Therapie mit Chelatkomplexbildnern für Erwachsene mit Vergiftungserscheinungen und einem Vollblutspiegel (PbB) > 70 mcg/dl (> 3,38 Mikromol/l)

  • Therapie mit Chelatkomplexbildnern für Kinder mit Enzephalopathie oder einem PbB > 45 mcg/dl (> 2,17 Mikromol/l)

Für alle Patienten gilt, dass die Bleiexposition beseitigt werden muss. Falls bleihaltige Fremdkörper in der Röntgenaufnahme des Abdomens sichtbar sind, wird eine Darmspülung mit einer Polyethylenglykol-Elektrolyt-Lösung in einer Erwachsenendosis von 1–2 L/h oder in einer Kinderdosis von 25–40 mlLkg/h durchgeführt, bis in der Röntgenaufnahme kein Blei mehr sichtbar ist. Eine Verabreichung über eine transnasale Magensonde kann notwendig sein, um diese großen Volumina einzuführen, wobei darauf geachtet werden muss, dass die Atemwege geschützt sind; eine Intubation kann notwendig sein. Sind Geschosskugeln die Ursache, so sollte eine chirurgische Entfernung in Erwägung gezogen werden. Kinder mit PbB 70 mcg/dl (> 3,38 Mikromol/l) und alle Patienten mit neurologischen Symptomen sollten stationär aufgenommen werden. Patienten mit einer akuten Enzephalopathie werden auf eine Intensivstation aufgenommen.

Chelatbildner (z. B. Succimer [Meso-2,3-Dimercaptobernsteinsäure], CaNa2EDTA [Calcium-Dinatrium-Ethylendiamintetraessigsäure], Dimercaprol [britisches Antilewisit oder BAL]) können verabreicht werden, um Blei in ausscheidbare Formen zu binden. Eine Chelatbildnertherapie sollte von einem erfahrenen Toxikologen überwacht werden. Die Indikation für eine Chelatbildnertherapie ist bei Erwachsenen mit Vergiftungssymptomen und gleichzeitigem PbB > 70 mcg/dl (3,38 Mikromol/l) und bei Kindern mit einer Enzephalopathie oder einem PbB > 45 mcg/dl (> 2,17 Mikromol/l) gegeben. Leber- und Nierenerkrankungen sind relative Kontraindikationen für Chelatbildner. Chelatbildner sollten bei einer weiter bestehenden Bleiexposition nicht gegeben werden, weil die Chelatbildung die gastrointestinale Bleiresorption steigern kann. Eine Chelat-Therapie entfernt nur relativ kleine Metallmengen. Bei sehr großer Gesamtbleibelastung des Körpers können mehrfache Chelat-Therapien über viele Jahre erforderlich sein.

Dosierung

Patienten mit einer Enzephalopathie werden alle 4 Stunden mit Dimercaprol 75 mg/m2 (oder 4 mg/kg) i.m. und CaNa2-EDTA 1000–1500 mg/m2 IV (Infusion) einmal täglich behandelt. Die erste Dimercaprol-Dosis sollte mindestens 4 Stunden vor der ersten CaNa2 EDTA-Dosis gegeben werden, um eine Rückverteilung des Bleis in das Gehirn zu verhindern. Dimercaprol kann in Abhängigkeit von der Bleikonzentration und vom Schweregrad der Symptomatik nach einigen Dosen abgesetzt werden. Die Dimercaprol-CaNa2 EDTA-Kombinationstherapie wird 5 Tage gegeben, gefolgt von einer 3-tägigen Auswaschphase. Im Anschluss daran wird die Notwendigkeit einer weiteren Chelattherapie erneut überprüft.

Die Behandlung der Patienten ohne Enzephalopathie erfolgt gewöhnlich mit DMSA (Succimer) 10 mg/kg p.o. alle 8 Stunden über 5 Tage, gefolgt von 10 mg/kg p.o. alle 12 Stunden über 14 Tage. Symptomatische Patienten können alternativ für 5 Tage mit Dimercaprol 50 mg/m2 tief i.m. alle 4 Stunden und CaNa2 1000 mg/m2 IV alle 24 Stunden behandelt werden.

Medikamentöse Behandlung

DMPS kann zu allergischen Hautreaktionen, Fieber und Schüttelfrost führen. Bei wiederholter Gabe sind die Leberwerte zu kontrollieren. Dimercaprol kann außerdem Schmerzen im Bereich der Injektionsstelle, zahlreiche systemische Symptome und bei Patienten mit einem G6PD-Mangel eine mäßiggradige bis schwere akute intravasale Hämolyse verursachen. Dieses Medikament sollte nicht gleichzeitig mit einem Eisenpräparat gegeben werden. Dimercaprol wird mit Erdnussderivaten zubereitet und ist deshalb bei Patienten mit bekannter oder vermuteter Erdnussallergie kontraindiziert.

CaNa2 EDTA (Calciumdinatriumedetat Versenate) kann eine Thrombophlebitis verursachen, die vermieden werden kann, wenn das Medikament i.m. und nicht IV gegeben wird und in einer Lösung, die nicht höher konzentriert ist als < 0,5%. Vor Beginn der Therapie mit CaNa2 EDTA muss eine ausreichende Diurese gesichert sein. Zu den ernsthaften Reaktionen auf CaNa2 EDTA gehören Niereninsuffizienz, Proteinurie, mikroskopische Hämaturie, Fieber und Diarrhö. Die Nierenschädigung ist dosisabhängig und in der Regel reversibel. Die Nebenwirkungen des CaNa2 EDTA sind wahrscheinlich auf eine Zinkdepletion zurückzuführen.

Succimere können Hautausschläge, gastrointestinale Symptome (z. B. Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe, Metallgeschmack) und eine passagere Erhöhung der Leberenzyme verursachen.

Niedrigere Bleiwerte

Patienten mit PbB > 3,5 mcg/dl (0,17 Mikromol/l) sollten engmaschig überwacht und darüber aufgeklärt werden (bei pädiatrischen Patienten die Eltern), wie die Bleiexposition reduziert werden kann.

Prävention von Bleivergiftung

Patienten mit einem erhöhten Risiko sollten mittels PbB-Messung überwacht werden. Zu den Maßnahmen, die das Risiko von Vergiftungen im Haushalt reduzieren können, gehören regelmäßiges Händewaschen, regelmäßiges Waschen des Kinderspielzeugs und der Schnuller und regelmäßiges Reinigen der Haushaltsflächen; Trinkwasser, Haushaltsfarben (mit Ausnahme von Häusern, die nach 1978 gebaut wurden) und außerhalb der USA/Europa hergestellte Keramiken sollten auf Blei untersucht werden. Erwachsene, die am Arbeitsplatz Bleistaub ausgesetzt sind, sollten eine geeignete persönliche Schutzausrüstung tragen, vor dem Nachhausegehen Kleidung und Schuhe wechseln und vor dem Zubettgehen duschen.

Wichtige Punkte

  • Häuser, die vor 1978 gestrichen wurden (vor allem dann, wenn renoviert oder neu gestrichen wurde), vereinzelte Keramik (z. B. Kannen, Tassen, Teller), die eine bleihaltigen Glasur hat, und bestimmte berufliche Expositionen erhöhen die Gefahr einer Bleivergiftung.

  • Patienten sollten durch die Bestimmung der Pb-Konzentrationen im Blut kontrolliert werden.

  • Die Bleiquelle muss eliminiert werden (z. B. mit einer Magen-Darm-Spülung).

  • Eine Chelat-Therapie sollte für Erwachsene mit PbB > 70 mcg/dl (3,38 Mikromol/l) und für Kinder mit Enzephalopathie oder PbB > 45 mcg/dl (2,17 Mikromol/l) verordnet werden.

  • Verwenden Sie Succimer als Erstlinien-Chelationstherapie bei asymptomatischen oder minimal symptomatischen Patienten mit leicht erhöhtem Bleispiegel. Alternativ kann Dimercaprol mit oder ohne CaNa2 EDTA bei symptomatischen Patienten ohne Enzephalopathie eingesetzt werden. Enzephalopathische Patienten werden aggressiv mit der Kombination Dimercaprol/CaNa2 EDTA-Chelat behandelt.